Viel gewagt, halb gewonnen

Giya Kantschelis "Vom Winde beweint" als Ballett in Mainz

Mainz, 07/10/2000

Der musikalische Raum, den Giya Kantscheli in seiner zehn Jahre alten säkularen Liturgie „Vom Winde beweint“ eröffnet, kann einem Choreografen Angst machen. Es ist ein großer, weiter und oft düsterer, vier Sätze und 45 Minuten langer Raum aus bleierner Zeit. In diesen Raum hinein tänzerische Schritte zu denken, Bewegung und szenische Abläufe – das nimmt man sich nicht vor, um es sich leicht zu machen.

Umso erstaunlicher, wie leicht, weil souverän, Martin Schläpfer seine Choreografie beginnt, die am Ende des neuen Doppelabends des Balletts des Staatstheaters Mainz in der Phönixhalle steht. Mit einem heftig angeschlagenen Klaviercluster öffnet sich der Blick auf eine weit aufgerissene Bühne. Ihr nachtblauer Boden verlängert sich nach hinten in eine Schräge, die in den (Bühnen-)Himmel ansteigt. Im Dämmerlicht: Ein Paar am Boden, zu einem Menschenknäuel ineinander verschränkt. In einem Pas de deux geben die zwei Tänzer – Kirsty Ross und Guido Wallner – das erste Thema des Stücks vor: Trauer. Um was sie trauern, ist zunächst nicht so bedeutend wie die Form, in der sie es tun: Schläpfer setzt der stillen, verharrenden Musik einen eigenen choreografischen Rhythmus entgegen, klare Formen auf neoklassischer Basis und flacher Sohle, ohne große Gesten, ohne falsches Gefühl. Das hält er den ganzen ersten Satz über durch, wenn allmählich ein zweites und drittes Paar und eine Solistin – Lauren Bunn, die hier und wieder am Ende des Stücks im vierten Satz eine leidende, wehklagende Frau darstellt – hinzukommen.

Das Blau des Bühnenbildes, das Schwarz der Kostüme (Hosen für die Herren, Kleider für die Damen – Ausstattung: Thomas Ziegler) und nackte Haut setzen zunächst die klaren, überlegt eingesetzten Farbakzente. Im zweiten und dritten Satz, wenn Schläpfer sein Thema konkreter hervortreten lässt, kommt ein weiterer Akzent hinzu: Rot, Blutrot. Aus den Strahlern ergießt es sich über die Szene, färbt die Spitzen eines stilisierten Stacheldrahtzaunes. Der Choreograf zeigt nun eine Gruppe offenbar verfolgter Menschen und ihre Hinrichtung durch ein Erschießungskommando.

Später jagen andere Schergen andere Opfer in die Enge, Menschen rennen offenbar um ihr Leben, eine Gruppe Männer zieht wie ein Treck ausgemergelter, sterbender Gefangener über die Bühne. Das zeigt Schläpfer in einer um Abstraktion bemühten, aber eben doch noch sehr eindeutigen Form – und eben darin wurzelt das Problem seiner Choreografie: Während er für die Bilder von Trauer und Leid, die den ersten Satz prägen und später immer wieder aufscheinen, eine souveräne, rein choreografische Gestalt findet (die nur gelegentlich knapp am Pathetischen vorbeischrammt), neigt er in den als Anklage gedachten anderen Sequenzen zu allzu plakativen Darstellungen. Sie verhindern, dass „Vom Winde beweint“ als Ganzes die Allgemeingültigkeit erreicht, auf die es zu Beginn hinsteuert. Dennoch: „Vom Winde beweint“ (gewidmet dem 1997 gestorbenen Viktor E. Frankl, der in „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ beschrieb, wie er als Psychologe das Konzentrationslager erlebt hat) ist eine höchst achtbare Leistung des Schweizer Ballettdirektors, die durch die Interpretation der Musik durch das Philharmonische Orchester des Staatstheaters Mainz unter Gernot Sahler aufs Beste unterstützt wird.

Das Publikum dankt Schläpfer dafür mit lang anhaltendem Applaus. Das ist umso bemerkenswerter, als Schläpfer sein „schweres“ Stück ans Ende gestellt hat und das leichtere, rasante, 1985 in Paris entstandene „Before Nightfall“ von Nils Christe an den Anfang – was musikdramaturgisch (Martinus ahnungsvoll das Verhängnis des Weltkrieges beschwörendes Doppelkonzert von 1938) richtig, programmgestalterisch aber gewagt ist. Aber auch dieses Wagnis glückt Schläpfer und seiner glänzend trainierten Truppe. Ein gelungener Start also in die neue, Schläpfers zweite Saison beim Ballett Mainz!

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