"Siren Sounding", "still.nest", "dreamdeepdown" Uraufführungen

Stuttgart, 16/06/2001

Von Choreografen der jüngeren Generation erwartet man, dass sie etwas wagen, dass sie mit ihren Werken etwas sagen wollen, was noch nicht gesagt worden ist. Von den drei Uraufführungen, mit denen das Stuttgarter Ballett im Kleinen Haus die letzte Premiere der Saison bestritten hat, entspricht „Siren Sounding“ des Stuttgarter Halbsolisten Douglas Lee dieser Erwartung am meisten. Sein zweites Stück für die Truppe ist rätselhaft, ungewöhnlich und faszinierend. Lee hat sich von den Sirenen der Odyssee inspirieren lassen und will zeigen, dass uns vieles von dem, was uns anzieht, nicht gut bekommt.

Nicht eine Bewegung in seinem halbstündigen Werk lässt das erkennen. In einem von Steven Scott mit auf drei transparente Hänger projizierten Gittern dramatisch gestalteten, wie verwunschen wirkenden Farbraum vollzieht sich ein Ritual der Langsamkeit, in dem zehn Damen und Herren ohne erkennbare Gefühlsregung in geometrischen Mustern schreiten, in Posen verharren und sich neu ordnen. Yseult Lendvai und Jason Reilly lösen sich zu einem ruhigen, gleichwohl athletischen und kompliziert-akrobatischen Pas de deux, Julia Krämer und Robert Conn tun es ihnen später gleich, wobei Krämer, beinahe starr, eher manipuliert als lockend erscheint. Katja Wünsches und Robert Tewsleys anschließendes Duo kommt fast ohne Berührungen aus. Es ist, als ob Mitglieder eines außerirdischen Ordens für eine kurze Weile in unsere Welt gleiten und sie nicht für gut befinden würden.

Die seltsame Mixtur aus extremer Dynamik und ebenso extremer Teilnahmslosigkeit hat eine irritierend suggestive Wirkung. Menschen, die miteinander intensive Beziehungen eingehen, deren eigentliches Wesen dem Zuschauer verschlossen bleibt, während Stücke für Viola solo von Reger und Hindemith die Atmosphäre noch abgründiger werden lassen – Douglas Lee hat mit diesem sibyllinischen, sensiblen und ganz in sich gekehrten Werk sehr viel gewagt und auf die mitfühlende Neugier des Publikums gesetzt. Er fordert behutsam zum Sehen auf und zur Geduld mit unserem diesmal kaum befriedigten Drang, immer sofort alles verstehen zu wollen.

Die Kanadierin Dominique Dumais macht es uns mit „still.nest“ erheblich leichter. Sie zeigt fünf meistens voneinander getrennte Paare, die vorwiegend damit beschäftigt sind, sich mit ekstatischen Bewegungen danach zu verzehren, welche zu werden. Wenn sie sich kriegen, dann geht die Post ab, gewagte Schleuderaktionen, irrwitzige Sprünge, viel neoklassischer Tanz mit gelegentlichen Verlegenheits-Sprüngen, der wieder in einsames Barmen nach der fehlenden Hälfte mündet. Verschwörerische Klänge von Guillaume Coté, höfische von Henry Purcell und wabernde von Arvo Pärt – die halbe Stunde wird recht lang. Aber es wird brillant getanzt, vor allem von dem virilen Eric Gauthier, dem auch ein toller Pas de deux mit der anmutigen Alicia Amatriain gegönnt ist, und den brillanten Bridget Breiner und Ivan Gil Ortega. Aber eigentlich tritt dieses Stück künstlerisch und dramaturgisch auf der Stelle, gerade wegen seines nimmer nachlassenden Hochdrucks.

Der Amerikaner Kevin O'Day, seit seinem begeisternden Stuttgarter „Delta Inserts“ vor zwei Jahren ein international gefragter Mann, schließt mit „dreamdeepdown“ direkt an dieses Werk an. Seine siebzehn Tänzer in grauen und braunen Trikots von Carole Divet agieren wie Planetengruppen im Weltraum, bilden Inseln und große Gebilde, tauchen kurz auf und verschwinden sofort wieder, Pas de deux werden unterbrochen, später wiederholt, noch später fortgesetzt. Als ob Flüssigkeiten einander durchdringen, strömen die Formationen über die Bühne, ein Menschenvulkan gebiert Bridget Breiner, die auf dem Lavastrom schlingert, bis er sich immer mehr verdünnt und Julia Krämer als letztes Rinnsal zurücklässt.

In diese tänzerische Explosion schmiegt sich ein intimer, konventioneller Pas de trois von Sue Jin Kang, Tamas Detrich und Robert Tewsley, der wie eine Hommage an die Stuttgarter Cranko- und Kylián-Tradition anmutet. Am Ende bäumt sich die ganze Bühne zu einem mächtigen Turm, der auseinander bricht und Eric Gauthier, den Tänzer des Abends, alleine stehen lässt, der noch einmal winkt und sich zu den Anderen legt. John Kings elektronisches Gehämmer und O'Days furiose, sich aber letztlich selbst zitierende Choreografie über die Gleichzeitigkeit der Geschehen waren sicher das spektakulärste Ereignis dieser Premiere. Doch etwas wirklich Neues geschaffen zu haben, das kann nur Douglas Lee für sich in Anspruch nehmen.

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