Compagnie Maguy Marin im Ludwigsburger Forum

Ludwigsburg, 16/02/2001

Das ist schon sehr bemerkenswert, dass einige Besucher des Gastspiels der französischen Compagnie Maguy Marin im Ludwigsburger Forum-Theater das immerhin zwanzig Jahre alte Tanzstück „May B“ so avantgardistisch anmutete, dass sie den Ort ihres Missvergnügens noch vor dem Ende der Aufführung verließen. Wie es überhaupt erstaunlich ist, dass ein modernes Stück, das einst Marins Weltruhm begründete, über eine dermaßen lange Zeit gewissermaßen das Markenzeichen der Choreografin bleiben konnte. Marin liebt die Menschen. Das lässt sich bei diesem schrulligen Werk in jeder Minute erkennen.

Samuel Beckett und seine Figuren sind zwar allgegenwärtig, einige von ihnen treten sogar für eine kurze Weile sozusagen persönlich auf, aber bei Maguy Marin scheinen sie, bei aller Isolation in sich selbst, von einem unbesiegbaren Lebenswillen beseelt zu sein, der auch ihr Publikum mit erheblichem Vergnügen in seine eigene Zukunft blicken lässt. Sie schauen aus, als seien sie mitten in der Nacht einem Altersheim entlaufen: Die Männer in langen, Falten schlagenden Unterhosen, die Frauen in unförmigen Nachthemden. Eine Frau ist ständig leicht vornüber gebeugt, eine andere hat wohl „Wasser in den Beinen“, keiner von ihnen kann die Füße richtig heben. Sie schlurfen vor sich hin, bilden einen Kreis und stöhnen inbrünstig, als ob sie auf der Toilette seien, ihre Finger geben merkwürdige Zeichen, stets drängen sie sich aneinander und blicken furchtsam ins Dunkel.

Aber wenn die Dorfmusik erklingt, dann kommt Leben in ihre gichtigen Glieder, sie zappeln behände, springen auf und nieder, tanzen, befummeln auch schon mal die Hinterteile ihrer Partner, man prüft penibel das Funktionieren der primären Geschlechtsmerkmale, onaniert eine Runde, ein bisschen Spaß muss sein, und fängt einen richtig bösen Streit an. Und da werden sie wieder alle von Angst befallen und suchen die Geborgenheit der Gruppe. Es staubt bei jeder Bewegung. Der Kalk rieselt den Alten von den grauen Gesichtern und aus den Haaren, selbst wenn sie prusten, steigen kleine Wölkchen auf.

Und so sehen wir ihrem skurrilen Treiben zu, wie sie in ihrer Trostlosigkeit verharren, sich einander und die Welt ausschimpfen, wie sie auf end- und zielloser Wanderschaft sind, bei der sie nach und nach unendlich traurig sterben, bis nur ein erstarrter Mann mit einem Koffer in der Hand übrig bleibt, über dem das Licht langsam verlöscht und Franz Schuberts „Schwanengesang“ den Zuschauern die Kehlen zuschnürt. Dennoch sind diese neunzig Minuten überwiegend von einer schwerelosen Heiterkeit erfüllt. Maguy Marin hat dem Stück gleichsam einen alles bestimmenden Rhythmus geschenkt. Jeder Schritt, jede Handbewegung und jede Aktion der Gruppe und der Individuen sind beschwingter Tanz. Wenn diese welken Menschen zittern, dann ist das nicht ein Beweis ihres Verfallens, sondern das natürliche Wesen ihres Alters. Sie verlieren nie ihre Würde, und die Zuschauer nie den Respekt vor ihnen, ob sie zu Schuberts vierter Sinfonie hiphoppen oder zum von Gavin Bryars ehrfürchtig vertonten Gesang „Jesus Blood Never Failed Me Yet“ eines zahnlosen Londoner Obdachlosen ihre schmerzvolle Reise in den Tod antreten. Eine tiefe Verbeugung vor Maguy Marin und ihrer wundervollen Compagnie.

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