Reid Anderson

Stuttgart, 02/04/2000

Das ist kein Pech mehr. Bisher konnte dem Stuttgarter Ballettintendanten Reid Anderson bei etwas gutem Willen noch unterstellt werden, dass er bei fast allen Choreografen, von ihm lautstark als große Talente angekündigt, die er im Laufe seiner nunmehr dreijährigen Amtszeit aus Nordamerika nach Stuttgart geholt hatte, von ihren ersten Erfolgen geblendet war und nun die Suppe ihres Scheiterns auslöffeln musste. Aber spätestens nach der jüngsten Premiere am Wochenende im Großen Haus ist offenkundig geworden, dass Anderson jedes Mal dann künstlerisch überaus schmerzvoll auf die Nase fällt, wenn er nicht Klassiker des Genres, wie Balanchine und Robbins, oder durch die europäische Kritik zertifizierte, zeitgenössische Könner einkauft, wie Daniela Kurz und Uwe Scholz. Ist der Ballettchef auf seinen eigenen Geschmack angewiesen, dann erlebt er regelmäßig ein Desaster.

Schon als Anderson im Jahre 1994, damals noch Leiter des Kanadischen Nationalballetts, bei einem Gastspiel seiner Truppe im Ludwigsburger Forum James Kudelkas unsäglichen Langweiler „Pastorale“ aufführen ließ, hatte man sich verwundert die Augen gerieben. Was, außer dass er diesen Schmarren als ein wichtiges Werk ansah, konnte ihn dazu bewogen haben, sich mit ihm zu blamieren?

Kudelka, inzwischen Andersons Nachfolger in Toronto, beschließt den neuen Ballettabend mit der Erstaufführung seines „Désir“ aus dem Jahre 1991 zu sechs Walzern von Sergej Prokofjew. Das nun ist eine ganz und gar unerträgliche Tanzschmonzette der klebrigsten Saccharin-Marshmallow-Klasse. Und hier hilft keine Ausrede mehr. Das Stück ist bekannt, es wird in Kanada getanzt, und es hat Anderson gefallen. Marjory Fieldings bonbonfarbene Schwebekleidchen sind eine solche Zumutung wie der dunkelblaue Mond im Mandarinenhimmel des Lichtdesigners Robert Thomson.

Und vor diesem kitschigsten aller Hintergründe lässt der Choreograf sieben Paare sich walzerselig herzen und lieben, schickt die Damen mit putzigen Backfisch-Neckereien spitzelnd zu den stampfenden und fäusteballenden Burschen, die formidablen Ivanna Illyenko und Tamas Detrich verschleudern ihre Bewegungskultur an seliges Armewedeln, die kapriziösen Patricia Salgado und Eric Gauthier huschen behände durch die Mondnacht und Bridget Breiner und Robert Conn werden zu einem verquälten Pas-de-deux-Mumpitz genötigt, an dessen Ende er ihr gar einen Kuss aufs Spitzenschühchen haucht. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Obwohl Trey McIntyre durchaus das Zeug dazu hat, dereinst Kudelka den Rang als choreografischer Oberpatissier streitig zu machen.

Der junge Amerikaner, er ist einer der Hauschoreografen des texanischen Houston-Ballets, will mit seiner einleitenden Uraufführung „The Difference Between Naked and Nude“ den Unterschied zwischen Nacktheit und Blöße illustrieren. Dazu hat er Sandra Woodall durchscheinende Kostüme aus unterschiedlichen Materialien entwerfen lassen. Im ersten Satz von William Waltons plakativ-romantischem Cellokonzert (Solist: Francis Gouton) tragen Thomas Lempertz, Alexander Zaitsev und Eric Gauthier enge Latexhosen und -Oberteile, im zweiten Sonia Santiago und Robert Conn textile Trikots, sowie sechs Herren Straßenanzüge über freien Oberkörpern, im dritten schließlich Oihane Herrero eine Art Wolltrikot zur Turmfrisur. Optisch ist damit dem thematischen Anspruch genüge getan. Was die Choreografie betrifft, so erweist sich McIntyre als ein halbwegs routinierter Arrangeur und Mixer bekannten Bewegungsmaterials. Die drei Herren können unter Woodalls bauchigem Plastikhimmel springen und drehen, dass es nur so eine Art hat –sie machen es fabelhaft, zwischendurch wird ihr vorwiegend von Cranko und van Manen entliehener Tanz mit Erschlaffung und Trippeleien gebrochen.

Das ist alles so belanglos, Santiagos und Conns Pas de deux, ein einziges athletisches Geschwurbel, Herrero, die beschwipst aus Balanchines „Apollo“ hereingeschneit scheint und ihr Coming Out als kraftvolle Tänzerin hat, Conns Faun-Getue, diese schönen Arme, die hinreißende Homogenität der sechs rotierenden Turbo-Männer. Choreografischer Leerlauf eleganter Poseure, der zu nichts führt und nur einen faden Nachgeschmack hinterlässt. So etwas hat die Compagnie nicht verdient.

Diese Ballettpremiere wäre zu einer kapitalen künstlerischen Pleite geworden, hätte sie nicht mit Christian Spucks Uraufführung „Das siebte Blau“ einen durch und durch seriösen Mittelteil. Der Choreograf nennt sein Stück die Vollendung seiner mit „Amores 1“ und „Dos Amores“ begonnenen Trilogie. Und in der Tat wirkt es wie ein Resümee der in diesen Arbeiten gewonnenen Erkenntnisse, die Konsolidierung einer künstlerischen Phase.

Spuck geht nur einen kleinen, fast unmerklichen Schritt weiter als in „Dos Amores“, sein Bewegungsmaterial ist beinahe das Gleiche, nur hat es eine gewisse innere Dynamik gewonnen, die weniger hektisch, aber dafür kraftvoller anmutet. Die in seinen früheren Arbeiten deutlich erkennbaren Einflüsse anderer Choreografen haben sich jetzt zu einer eigenen Sprache geformt. Die unter das gebeugte Knie greifenden Hände, das Schaukeln der zum Kreis geformten Arme vor dem Unterkörper, ihre weiten Schwünge sind erkennbar „Spuck“ geworden. Zu Auszügen aus dem ersten, zweiten und vierten Satz von Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ vollzieht das Stück sozusagen eine Wellenbewegung. Vom rastlosen Spurten und sich ständig neu Gruppieren der vierzehn Damen und Herren im ersten Teil, keine zwanzig Sekunden sind die gleichen Tänzer auf der Bühne, über das schmerzvolle Abschiednehmen im zweiten, bis zum heiteren „Das Leben geht weiter“ im dritten schwingt sich Spucks choreografisches Pendel, das vor allem im Mittelteil mit einer Vielzahl kurzer Duos der großartigen Julia Krämer mit wechselnden Herren eine immense Dichte gewinnt.

Einziges Manko ist eine zu deutliche Anleihe bei Forsythes „Quintett“, in der Sonia Santiago, Julia Krämer und Bridget Breiner als Metapher für den Tod immer wieder in Versenkungen verschwinden. Beeindruckend die Knappheit der Mittel, Miro Paternostros schwarzblaue Trikots und die suggestiv wechselnde Platzierung der vorzüglichen Streicher Kathrin Scheytt, Michael Wille, Burkhart Zeh und Zoltan Paulich auf der Bühne. Ein Stück wie aus einem Guss, ein hoffnungsvoller Choreograf, der Reid Anderson wie ein goldener Apfel in den Schoß gefallen ist. Dennoch: Spuck ausgenommen, tanzt dieser Abend technisch bewundernswert auf einem selbst gewählten künstlerischen Niveau, das zu sehr ernsten Sorgen Anlass ist. So gibt sich das Stuttgarter Ballett der Lächerlichkeit preis. Am Pult des Staatsorchesters der zuverlässige James Tuggle.

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