NDT3

Ludwigsburg, 27/01/2000

„Von vierzig bis tot“ – das sei, so Jiri Kylián, das richtige Alter für ein Mitglied des NDT3. Mit der Gründung dieser durchschnittlich fünfköpfigen Seniorentruppe des weltberühmten Nederlands Dans Theater hat Kylián vor neun Jahren jenes bis dahin als unumstößlich geltende, ungeschriebene Gesetz Makulatur werden lassen, nach dem Tänzer auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen Reife nicht mehr die körperlichen Fähigkeiten zur Ausübung ihres Berufes hätten und sich auf der Bühne nur noch als Königinnen oder Haushofmeister blicken lassen dürften. Ein tragischer Irrtum, dem allerdings, ausgenommen die Holländer, noch alle traditionell orientierten Compagnien anhängen.

Nun hat Kylián seinerzeit nicht etwa eine Art Revolution angezettelt, sondern nur einen Unfug korrigiert. Wie sehr er damit Recht hatte, das beweist die einzigartige Erfolgsgeschichte des NDT3, das heute mit jährlich etwa siebzig Aufführungen in aller Welt eine der meistbeschäftigten Truppen überhaupt ist. Und eine der beliebtesten. Dem Ludwigsburger Kulturamt ist es gelungen, für seine renommierte Reihe „Tanzforum“ das NDT3, die Nachwuchsformation NDT2 und die Hauptcompagnie NDT1 zu mit wöchentlichem Abstand aufeinander folgenden Vorstellungen im Forum-Theater zu verpflichten.

Dass, bisher, nur der Abend der Senioren ausverkauft war, spricht für sich. Seit einem Jahr wird das NDT3 gemeinsam von den Ex-Stuttgartern Egon Madsen und Ulf Esser geleitet. Bei aller Freude wundern sie sich ein wenig darüber, dass die drei Abteilungen der in Den Haag angesiedelten Compagnie, vor allem in Deutschland, nicht nur als exzellente Truppe mit einem ausgezeichneten Repertoire geschätzt, sondern beinahe wie eine unantastbare Reliquie des Tanzes angesehen und behandelt werden. Doch der Grund für solche Verehrung ist bei jeder ihrer Aufführungen beinahe mit den Händen zu greifen. Besonders über den Auftritten der Senioren scheint ein Hauch des Besonderen zu schweben, als seien sie in Gold gefasst.

Wenn sich Gérard Lemaitre, Egon Madsen, David Krügel und schließlich Sabine Kupferberg in Paul Lightfoots „Small Dances“ zu einem Violinkonzert von Antonio Vivaldi ihrer Einsamkeit zu erwehren suchen, indem sie, schlurfend, popowackelnd und heftig mit ihren Gliedmaßen gestikulierend, mit den Anderen kurze Beziehungen eingehen, die sich bald wieder zu erneutem Alleinsein auflösen, dann ist das bei ihnen nicht nur in resignierendes Grau getaucht. Sondern ihre Körper, die immer wieder aus dem Lot geraten, sprechen auch von der gelassenen Heiterkeit des Alters, den skurrilen Marotten von Individuen und dem noch immer wachen Erstaunen über das Leben. Am Ende bleibt der nackte Lemaitre, der immer abseits gestanden hat, allein zurück, ohne jene, die nie seine Freunde geworden sind, und die er dennoch vermisst.

Hans van Manen hat für Gioconda Barbuto, Kupferberg, Krügel und Lemaitre „Zero Hour“ zu Tangos von Astor Piazzolla geschaffen. Das nun ist ein Stück über erotische Machtkämpfe, das dreiste und doch auch herbeigesehnte Verletzen persönlicher Territorien und vor allem über van Manens Lieblingsthema, die Probleme der Geschlechter miteinander. Man sitzt nebeneinander auf Stühlen und klärt mit weit ausholenden Gesten die im Grunde gleichen Standpunkte und Wünsche. Den Herren bleibt keine Wahl – sie sind es, die permanent angreifen müssen und immer wieder stehen gelassen werden. Auch hier bleibt am Ende jeder unfreiwillig allein. Aber was hat sich zwischen Beginn und Scheitern getan! Wie sind die konventionellen Tangoschritte als Stichwaffen benutzt geworden, welche taxierenden, auffordernden und abweisenden Blicke wurden aus den Augenwinkeln abgeschossen, welche Hochspannungen haben sich zwischen den Vieren entladen! So etwas ist mit zwanzigjährigen Hochspringern nicht hinzukriegen.

Auch nicht Jiří Kyliáns „Trompe L‘Oeil“, in dem sich die gleichen Tänzer der Sinnestäuschung hingeben, sie seien große Künstler, während sie in Wahrheit nur aufgezogene Hampelmänner sind, die sich wie Puppen auf einer Spieluhr drehen, mit brüchiger Stimme und albernem Pathos die Marseillaise singen, am „Schwanensee“ scheitern und beim Pas de deux vom Handy gestört werden. Diese Szene mit dem immerhin schon 63-jährigen Lemaitre, an deren Ende er, von Kupferberg mit der Teleskopantenne erdolcht, wie ein Mann stirbt (das Handy in der Hand), gehört mit zum Lustigsten dieser Persiflage, für die Kylián ein Füllhorn urkomischer und selbstironischer Einfälle ausschüttet, in denen sich die vier mit einer Begeisterung tummeln, als seien sie Kinder, die im Matsch planschen.

Es ist selbstverständlich, dass vor den Toren Stuttgarts und vor vielen seiner Fans zu tanzen, einige sind seinetwegen sogar aus Berlin angereist, für Egon Madsen ein besonderes Erlebnis ist. Aber nicht nur er hat eine spezielle Bindung an Stuttgart. Sabine Kupferberg hat einst unter John Cranko getanzt, und Kylián, bis vor einem Jahr Direktor des NDT und noch immer sein Chefchoreograf, hat als Stuttgarter Tänzer seine ersten Werke geschaffen. Ulf Esser, der sich gerne an das damalige „schöpferische Brodeln in Stuttgart“ erinnert, das so viele Talente hervorgebracht hat, glaubt, dass man jetzt in Den Haag eine ähnliche Atmosphäre spüre.

Paul Lightfoot und Johan Inger, beide junge Tänzer der Truppe, entwickelten sich zunehmend zu wichtigen Choreografen, die man unbedingt brauche. Denn der über die Jahrzehnte unvermindert anhaltende Erfolg des Nederlands Dans Theater und jetzt auch des NDT2 und des NDT3, gründe wesentlich darauf, dass man fast nur für sie choreografierte Werke im Repertoire habe. „Vor allem für das NDT3 kommt es darauf an“, so Esser, „dass es Stücke hat, die nicht etwa auf die reduzierten körperlichen Kräfte älterer Tänzer zugeschnitten sind, sondern die extrem hohe Anforderungen stellen, denen junge Tänzer noch nicht entsprechen können.“

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