Körper-Schau-Bühne

Berlin: Sasha Waltz fängt ganz neu an

Berlin, 22/01/2000

Von den bescheidenen Sophiensälen, ihrer bisherigen Wirkungsstätte in Berlin-Mitte im früher sozialistischen Osten der Stadt, in das großzügige Nobeltheater West. Aus dem kultig-alternativem Milieu in den Tempel soigniert-arrivierter Schauspielkunst. Der Kulturschock solcher Veränderungen wäre manchem schon Last genug. Aber Sasha Waltz, der momentane Star des jungen Tanzes in Deutschland, hat schließlich schon einmal einen Kulturschock wohlbehalten überstanden, als sie von Karlsruhe, ihrer ruhigen Heimatstadt im Südwesten der Bundesrepublik, nach Berlin übersiedelte, in die hektische, brummende Metropole mit ihrer großen, wenn auch nicht sehr wohlorganisierten freien Tanzszene. Kein Wunder deshalb, dass Sasha Waltz von einer Welt, Berlin-Mitte, in die andere, Berlin-West, so leichtfüßig wechselt!

Eine so mutige junge Frau schreckt auch die Hinterlassenschaft an Nimbus und Kult nicht, die sie an der Schaubühne miterbt – zusammen mit ihren Kollegen, voran der junge Theater-Regiestar Thomas Ostermeier. Dieses Team übernimmt an der Schaubühne eines der prestigeträchtigsten Schauspielhäuser Europas. Hier hat Peter Stein sich einen Namen gemacht, hat Welttheater inszeniert. Eine solche Geschichte prägt ein Haus und bleibt nicht ohne Einfluss auf die neuen Herren und Frauen in seinen Direktionsbüros.

Sasha Waltz jedoch zeigt sich davon bislang völlig unbeeindruckt. Scheinbar wie selbstverständlich wechselt sie von der freien Szene an ein etabliertes, festes, hochsubventioniertes Haus. Mehr noch: Sie fängt hier am Kurfürstendamm sogar noch radikaler neu an als das Schauspiel-Personal um Thomas Ostermeier. Denn Waltz gibt hier auch die erste Tanzdirektorin, die gleichberechtigt in die Leitung eines deutschen Sprechtheaters eingebunden ist. Sasha Waltz setzt damit ein Experiment fort, das in den achtziger Jahren begann und dessen zentrale Frage lautet: Ist der Tanz in deutschen Schauspielhäusern besser aufgehoben, wird er dort als Sparte besser behandelt als in den Opernhäusern hierzulande von deren Intendanten? Bislang hat dieses Experiment keine sehr hoffnungsvoll stimmenden Resultate gezeitigt: Reinhild Hoffmann ist am Schauspielhaus Bochum ebenso gescheitert wie Irina Pauls am Schauspiel Leipzig.

Bei Sasha Waltz in Berlin liegen die Dinge nun aber anders: Waltz ist nicht Untergebene des Schauspielchefs, sondern dessen gleichberechtigte Partnerin – und das nicht nur verwaltungstechnisch, sondern gerade auch künstlerisch. Was sich an der Schaubühne zur Zeit tut, könnte also der Beginn eines grundlegenden Strukturwandels in der etablierten Tanzszene Deutschlands sein.

Selbstverständlich bleibt der Wechsel aus der armen freien Szene an ein reiches festes Haus, bleibt die neue Künstlerpartnerschaft mit Leuten vom Sprechtheater nicht ohne Wirkung auf die Ästhetik. Eine solche Veränderung war zumindest mittelfristig vorherzusehen. Doch dass sie so schnell Realität geworden ist, das überrascht dann doch. Als hätten die Probemonate ihres neuen Ensembles nicht in der Schaubühne, sondern in einem Brutkasten stattgefunden, verwandelte sich Sasha Waltz zu ihrer ersten Premiere am neuen Ort (die zugleich die Eröffnungspremiere des neuen Schaubühnen-Direktoriums war) in eine ganz andere Choreographin als sie zuvor gewesen ist.

In ihrem Schaubühnen-Debütstück „Körper“ erfindet sich Sasha Waltz sozusagen neu. Einfach so. Sie wirft alles über Bord, was ihre Arbeit bisher prägte: narrative Inhalte und Kleine-Leute-Themen, sanfte Sozialkritik und polternden Humor – und auch den Tanz. Einmal nur, am Schluss nach einhundert pausenlosen Minuten, walzen fünf Paare ein paar kurze Rechtsdrehungen lang. Aber das ist dann nur noch ein Hochzeitstanz mit dem Tod, eine böse Parodie auf weltvergessene Walzerseligkeit in einer Welt, die unseliger nicht sein kann. Der Rest ist Körper-, Bewegungstheater.

In der „Körper“-Schau von Sasha Waltz geht es allein um die sozialen Funktionen und die mutwilligen Zurichtungen des menschlichen Körpers und um seine Inventur: Die sieben Herren und sechs Damen des Ensembles agieren vorzugsweise halbnackt. An ihren ausgestellten Körpern wird Maß genommen. Sie werden beschrieben, erklärt, in ihren Einzelteilen vorgestellt und benannt. Dann dienen sie der Darstellung dessen, was der „Körper“ heutzutage bedeutet, wozu er gebraucht und missbraucht werden kann. Waltz zeigt ihn als Ersatzteillager der Medizin (zwei Frauen markieren auf nackter Haut die Lage bestimmter Organe und kleben sich dazu Preisschilder an), als ein Frankenstein‘sches Experimentierfeld (zwei Tänzer verschmelzen zu einer Figur, deren Ober- und Unterleib in der Hüfte verkehrt herum zusammengesetzt sind) oder als Sinnbild des nationalen deutschen Traumas, wenn Schicht um Schicht nackte Körper zu Menschenleiberbergen gestapelt werden (die Premiere von „Körper“ fand fast auf den Tag fünfundfünfzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz statt). Der Körper als Genlabor und bloße Hülle, als Ort einer Entfremdung des Menschen von sich selbst.

Waltz wählt einen betont kalten Blick auf all das. Sie stellt nur dar, ohne Emotion, ohne mitgelieferte Moral. Selbst potenziell witzige Szenen werden so zu nüchternen Nummern – wenn etwa die Tänzer eigene Körpergeschichten erzählen, wenn sie Gefühle, Zustände, Reaktionen bestimmter Körperpartien und Organe in bestimmten Situationen schildern und dabei grundsätzlich alles miteinander verwechseln, worauf sie deuten: auf die Augen, wenn sie „Bauch“ sagen, auf den Unterarm, wenn sie von der Brust reden, auf den Po, wenn das Herz gemeint ist …

„Körper“ spielt auf einer großen, halbdunklen Bühne vor dem Halbrund einer Betonwand. Es gibt schlichte schwarze Kostüme und kaum ein Bühnenbild. Die Darsteller und das Licht – das sind die wesentlichen Elemente dieser Inszenierung. Und die Dramaturgie. Sie trägt die Aufführung bis weit über die Hälfte des Stücks sicher und spannungsvoll. Von einer perfekten Produktion, von einem Meisterwerk gar ist das Stück noch weit entfernt. Aber es ist ein höchst respektabler, höchst vielversprechender Anfang geworden. Mit der „neuen“ Sasha Waltz hat die etablierte Tanzszene Deutschlands eine Choreographin gewonnen, auf die man von nun an mehr achten muss als je zuvor – zu Hause ebenso wie international.

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