Essen, Zeche Carl: „Sturmgeflüster“

Essen, 03/12/1999

Mit einem Knall gehen die Türen auf. Vier Frauen und zwei Männer stürzen herein, braune Decken über die weiße Unterwäsche geworfen. Katastrophenopfer vielleicht, gerade noch der Gefahr Entronnene, die nun die Bedrohung in sich, mit sich tragen. Zwischen Apathie und tollwütiger Raserei wechselnd, wenden sie ihre Aggressionen gegen sich und die anderen, und ihre Bewegungen changieren ins Tierische, wenn der Kopf wie der eines Vogels ruckt oder eine Tänzerin sich in ihre Decke verbeißt und im hündischen Beuteln tobt.

Zentrum ist ein dünnes Holzgeviert, ein paar Meter breit und lang. Es wird von wenigen Scheinwerfern erleuchtet, der übrige Raum - die hohen unverputzten, rohgebrannten Ziegelmauern, der steinerne Boden - liegen im Dämmer. Das Maschinenhaus der Zeche Carl in Essen ist einer jener magischen Orte, an denen das Ruhrgebiet so reich ist: ehemalige Kokereien, Zechen, Halden, Gasometer; Industriedenkmale, die zu Stätten der Kultur geworden sind. Und wenn auf ihnen auch nicht mehr im Sinne der industriellen Fertigung gearbeitet wird - es arbeitet noch in ihnen. Sie sind eben mehr als nur Räume, die nun für Kunst genutzt werden. Und in den besten Fällen wird dies deutlich.

Der Choreograph Urs Dietrich, der seine Karriere in Essen an der Folkwang-Hochschule begann, als freier Choreograph arbeitete, zeitweilig als Kodirektor Susanne Linke beim Bremer Tanztheater zur Seite stand und nun designierter Direktor dieser Kompanie ist, war beileibe nicht der erste, der in diesen „Kathedralen der Arbeit“ aufführt. Seit Jahren nutzen Künstler industrielle Räume auf ganz unterschiedliche Weise - und einige wenden sich schon wieder ab, weil sie der morbide Charme verrottender Gelände mehr inspirierte als die zum Denkmal gewordene, mit Restauration aufgerüstete eventtaugliche Kulturstätte. Doch selbst dann ist diese Architektur eine Herausforderung. Urs Dietrich hat sie in seinem Stück „Sturmgeflüster“ - ein Projekt der Tanzlandschaft Ruhr - angenommen.

Seine Akteure besetzen das Maschinenhaus. Sie platzen mit hoher Energie in diese Halle, springen und toben über die ausgelegten Bretter, fallen übereinander her, und es gelingt ihnen, auch in den ruhigen Momenten, wenn sie in ihre Decken gehüllt an der Seite sitzen, dieses Bretterpodest (Raum: Urs Dietrich, Katrin Plötzky) als Kraftzentrum zu erhalten. Dabei sind die Gruppenszenen gar nicht die Stärken von „Sturmgeflüster“: Eine Frau wird gejagt, malträtiert, die Gruppe ruckelt unisono, drapiert sich die Decken in immer neuen Varianten um den Körper. Die Tänzer schreien lautlos mit offenem Mund, auf gebeugtem Knie, verlagern schnell das Gewicht von einem Bein auf das andere. Die sparsam eingesetzte Musik - „Austral Voices“ von Alan Lamp und Rolf Julius' „small music vol. 1“ - schwillt mal zum Crescendo an, mal tönt sie leise wie sich überlagernde elektronische Spieluhren.

Wirklich packend sind die Soli und Duette: Da erstirbt einer zuckenden Frau die flatternde Handbewegung. Reglos bleibt sie liegen. Eine andere reagiert auf jede Berührung eines Menschen wie auf einen Stromstoß. Ihr Körper hüpft - aus welcher Position auch immer - wie ein Springball. Schlägt ein paarmal hart auf, bewegt sich nicht mehr, bis sie wieder jemand berührt. Herzstück von „Sturmgeflüster“ ist ein Duett, so erotisch, wie es für Urs Dietrich typisch ist, der es schafft, gegenläufige Impulse in einer Bewegung, in einem Bild zu verschmelzen, ohne auf Klischees zurückgreifen zu müssen. Hier sind es ein Mann und eine Frau, die sich in ihrer gegenseitigen Anziehung bekämpfen. Halb Judokas, halb Liebespaar, verknoten und verschrauben sie sich miteinander. Die Grenzen zwischen Kopulation und Wettkampf, zwischen Gewalt und Zärtlichkeit verschwimmen in einem Kontinuum handgreiflicher, körperlicher Nähe: drastisch, aber nie plakativ. Schließlich formieren sich alle Tänzer zur Prozession und wandern langsam dem Publikum entgegen, still setzen sie sich in die erste Reihe und sehen mit uns dem Raum zu. Im Dunkeln.

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