„Elena’s Aria“ von Anne Teresa De Keersmaeker

„Elena’s Aria“ von Anne Teresa De Keersmaeker

Die Kunst der Konzentration

Anne Teresa De Keersmaeker und ROSAS mit „Elena’s Aria“ beim internationalen Sommerfestival auf Kampnagel

Hamburg, 19/08/2012

Es ist schon bemerkenswert, wenn Zuschauer, die bis zu 36 Euro für ihre Karte bezahlt haben, schon nach 10 Minuten beginnen, den Saal zu verlassen. Bei „Elena’s Aria“ am 18. August hielt der Exodus bis kurz vor Schluss an. Etwa anderthalb Stunden lang verließen immer wieder kleinere oder größere Personengrüppchen den Aufführungsort (die K6 auf Kampnagel), aufgrund der knarzenden Treppenstufen auf dem Stahlrohrgerüst deutlich vernehmbar. Zum Schluss war gut ein Drittel des ursprünglich vollbesetzten Saales leer.

Tatsächlich verlangt „Elena’s Aria“ dem Publikum einiges ab. Vor allem, dass es Konzentration, Ruhe, Pausen und Wiederholungen aushält. Dass es bereit ist, kleinste Details wahrzunehmen. Denn gerade darin ist Anne Teresa De Keersmaeker eine Meisterin: Man muss oft schon sehr genau hinschauen, um die filigranen Veränderungen wahrzunehmen, die sie und ihre vier Tänzerinnen im Ablauf des Stückes zeigen. Was als stereotype Wiederholung von Bewegungsabläufen erscheint, hat doch viele Nuancen der Abwandlung. Vielleicht ist das Publikum von heute solch ein Schauen nicht mehr gewohnt, vielleicht hält es so viel Konzentration auch nicht mehr aus, vielleicht empfindet es die Wiederholungen als zu ermüdend.

Gerade darin liegt aber die Kraft, die das mittlerweile fast 30 Jahre alte und jetzt rekonstruierte Stück immer noch zu entfalten vermag. Es kommt mit bemerkenswert wenig Requisiten aus: ein weißer Kreidekreis auf dem Boden, 10 akkurat in einer Reihe angeordnete bunte Stühle sowie weitere 10-15 Stühle unterschiedlicher Provenienz, am linken Rand gruppiert, am rechten Rand eine alte Bürolampe, ein Nachtkästchen aus den 1950er Jahren, ein Stuhl. Das war’s. Und mittendrin fünf Frauen in cremefarbenen Brokat-Cocktailkleidern mit schwarzen Pumps. Zu Beginn marschiert eine Tänzerin entschlossenen Schrittes über einen von einem Scheinwerfer erleuchteten Streifen im Vordergrund der ansonsten schwarzen Bühne zu der Lampe am rechten Rand, setzt sich und liest 1-2 Minuten lang einen französischen Text vor. Lampe aus. Windmaschine an. Eine Stuhlreihe im hinteren Bühnenbereich wird sichtbar. Die Vorleserin stellt sich in den Wind und verharrt dort, während zwei Frauen auf der Stuhlreihe sitzen, einen Stuhl zwischen sich. Pause. Stille. Die Vorleserin setzt sich, wieder im Abstand eines Stuhles neben die beiden Frauen, in der gleichen Haltung wie diese. Ruhe. Pause. Schließlich beginnt eine Bewegungsfolge, in der sich die Frauen jeweils um einen der Stühle herumwinden, mit fließenden, gleitenden Bewegungen, immer wieder minutenlang in Posen verharrend. Aus diesem Miteinander wird plötzlich ein Gegeneinander, indem eine der drei zur Gejagten wird, bis sie am Ende der Stuhlreihe zu Boden fällt, nach einer Weile aufsteht, zum Kreidekreis geht und dort in einer sich ebenfalls ständig wiederholenden Bewegungsfolge im Kreis geht.

Auf diese Weise bewegen sich alle fünf Tänzerinnen eine Stunde lang abwechselnd durch das Stück, in immer gleichen Bewegungsmustern, die sich nur marginal unterscheiden, mit vielen Pausen, in Posen verharrend, mit wechselnden Vorleserinnen und wechselnden Texten, in wechselnden Sprachen (französisch, englisch, deutsch − mit Brechts „Surabaya Johnny“). Es sind stereotype Abfolgen, und doch sind sie – auch aufgrund der Verschiedenartigkeit der Tänzerinnen – sehr individuell geprägt. Über lange Zeit bleibt die Bühne relativ duster. Erst nach etwa einer Stunde wird das Licht ganz langsam, über viele Minuten hinweg, sachte heller. Nach dem zweiten Vorlesen setzt Musik ein, leise, wie aus einem fernen Grammophon, eine kratzige Aufnahme operettenhafter Melodien aus lang vergangener Zeit. Auf die Bewegung der Tänzerinnen hat die Musik jedoch keinen Einfluss.

Nach gut anderthalb Stunden der erste richtige Break: Im Radio erklingt eine cubanische Ansprache (Che Guevara?), die Tänzerinnen ziehen ihre Pumps aus und tanzen barfuß weiter, eine knipst einen Filmprojektor an, der einen alten Schwarz-Weiß-Stummfilm auf die Hallenwand im Hintergrund projiziert. Zu sehen sind einstürzende Neubauten – Gebäude, Kraftwerke, Brücken, Türme, sauber gesprengt in sich zusammensinkend. Alles ohne erkennbaren Zusammenhang mit dem Stück. Erst in den letzten 10 Minuten erlebt das Geschehen dann eine unerwartete Steigerung: Die Tänzerinnen bringen Stühle in die Mitte der Bühne, wo der Kreidekreis jetzt keine Rolle mehr spielt; die Musik wird lauter; das Licht heller; die Bewegungen werden schneller, dynamischer, anfangs individuell, später auch synchron getanzt. Die Bühne wird dunkel, und man denkt – das war’s. Mitnichten: Alle fünf Tänzerinnen tragen jeweils einen schwarzen Stuhl, den sie teilweise aus dem Bühnendunkel heranholen, in einen von einem Scheinwerfer erhellten Streifen ganz vorne gegenüber der ersten Zuschauerreihe, nehmen Platz und zeigen nun alle fünf synchron eine Bewegungsfolge im Sitzen zu einem Satz aus einer Klaviersonate von Mozart (in einer wunderbar poetischen Aufnahme mit Friedrich Gulda). Als die Musik verklingt, stehen alle gleichzeitig auf und gehen in dem Lichtstreifen ab. Sowohl in seiner Reduktion als auch in seiner Konzentration ist Anne Teresa de Keersmaekers Stück auch heute noch höchst aktuelles Tanztheater.

Mitarbeit: Caroline Schwarz

 

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