„Tristan Isolde“

Stuttgart, 01/10/1999

Es gibt Augenblicke in diesem Tanzstück, in denen die Welt ihren Lauf anzuhalten scheint: Tristan und Isolde sitzen so weit wie möglich voneinander entfernt auf dem Altar, auf dem sie ihre Liebe geopfert haben. In ihre erstarrten Gesichter hat sich Wut und Enttäuschung, Trauer und Verzweiflung eingegraben. Minutenlang verharren sie bewegungslos. Die Musik ist verklungen und das Publikum wagt kaum zu atmen.

Wohl nur wenige Premieren der letzten Zeit sind mit so großen Hoffnungen und so großen Befürchtungen erwartet worden, wie dieses „Tristan Isolde“, mit denen Ismael Ivo und Marcia Haydée möglicherweise in ein neues künstlerisches Leben starten würden. Hier Marcia Haydée, einstige Imageballerina und Chefin des Stuttgarter Balletts, die es nicht lange im Pensionärsdasein ausgehalten hatte, und der mit Jean-Christophe Blaviers „Out of Silence“ und soeben „Elle e(s)t moi“ Fehlstarts zu einem großen Comeback unterlaufen waren.

Dort Ismael Ivo, das in Stuttgart angebetete Körperereignis, dem am Nationaltheater Weimar wenig Glück beschieden war, und der nun zu gerne endgültig an den Ort seiner Erfolge zurückkehren würde. Sie haben es gepackt. Ihre gemeinsam verantwortete Choreografie vermeidet jenen Kardinalfehler, über den Blaviers Arbeiten gestolpert sind. Haydée und Ivo bedienen sich nicht der verbliebenen Reste ihrer tänzerischen Blütezeit, sie legen vielmehr bisher kaum genutzte Schichten ihrer darstellerischen Potenz frei, bedienen sich eigener Erfahrungen, von denen sie während der Aufführung offenbar sehr bewegt werden, und sie bleiben vor allem sie selbst - nicht Tristan und Isolde, sondern Ismael und Marcia, zwei impulsive, starke Persönlichkeiten brasilianischer Herkunft, lassen uns tief in ihre Herzen blicken.

„Tristan Isolde“ ist zwar ein Stück nach Motiven der fast gleichnamigen Oper von Richard Wagner. Aber es behandelt nicht den von der unerfüllten Liebe hervorgerufenen körperlichen Tod, sondern das Sterben der Liebe selbst. Es ist im Grunde die Sache mit der nicht verschlossenen Zahnpastatube. Ein Paar, anfänglich in Leidenschaft zueinander entbrannt, wird im alltäglichen Umgang nachlässig und gedankenlos, dem desinteressierten Abwinken während eines Wortwechsels folgen schnell die Gewalt, der Überdruss und die Verzweiflung. Bei Isolde und Tristan hängt der Haussegen schief.

Zu Beginn erschallt aus dem hinteren Teil des Saals lautstarkes portugiesisches Gekeife, hoch über den Köpfen des Publikums tasten sich die beiden an den Wänden entlang, hasten über die Beleuchterbrücken, gleichzeitig voreinander fliehend und einander verfolgend. Dem schließt sich auf der Bühne eine lange Szene vergeblicher Versuche des Versöhnens an. Wenn der eine dazu bereit ist, hat sich beim anderen durch das Warten auf die ersehnte Geste die Haltung verhärtet. Und umgekehrt. Mehr der Vernunft, als dem verletzten Herzen folgend, einigt man sich endlich, was wieder in Gewalt mündet. Das wiederholt sich eskalierend bis zum schlimmen Ende.

Marcel Kaskeline hat die Bühne des Theaterhauses mit einer rückwärtigen Metallwand und einem flachen, fahrbaren Tisch ausgestattet. Auf ihm steht ein großes Glas, vielleicht der bittere Kelch der Liebe. Tristan und Isolde nutzen sein Wasser zur Erfrischung, zur Auffrischung ihrer Gefühle und zum höhnischen Missbrauch. Am Schluss ist noch eine Neige im Glas, aber keiner von ihnen mag sich noch ihrer bedienen. Es sind nicht die großen Gewaltausbrüche, die das Stück über lange Strecken so packend machen, nicht die equilibristischen Einlagen, die zuweilen konstruiert wirken und deshalb zu den schwachen Passagen des Abends zählen. Es sind die kleinen Gesten, die kaum merklichen Handbewegungen der Zärtlichkeit und der Unfähigkeit, den eigenen Gefühlen zu trauen und ihnen nachzugeben. Es sind die Blicke, die erkaltenden Gesichter, die abgrundtiefe Einsamkeit, die wir in ihnen erkennen. Hier stellen zwei Menschen ihr ganzes Elend zur Schau. Es gibt diesen halb erzwungenen, halb herbeigesehnten Geschlechtsakt, der alles wieder ins Lot bringen soll, und nach dessen Abbruch die Abneigung umso eisiger ist. Man weiß gar nicht, wohin gucken, wenn sich so beklemmend intime Dinge abspielen.

Die vier großen Szenen werden, leider aus einer unzulänglichen Lautsprecheranlage, von verschiedenen Fassungen des Opernfinales (Isoldes Liebestod) begleitet. Franz (nicht Friedrich) Liszt für Klavier, Hans Peter Jahn für Streichquartett, eine Orchesterfassung und das Original mit Margaret Price. Wie zum Hohn gerät unser Liebespaar jeweils genau in jenem Augenblick in seine größte Krise, in dem die Musik ins Nirwana zu entschwinden scheint. Am Ende brüllt Ivo: „Was hast du mit meinem Leben gemacht? Ich hasse dich!“ Und Haydée übertönt als Antwort Prices Jubel mit einem grauenvollen Schrei.

Marcia Haydée hat vielleicht Recht gehabt, als sie vor der Premiere ihre neue Partnerschaft mit Ivo jenen mit Richard Cragun und Jorge Donn gleich stellte. Jedenfalls hat Ismael Ivo bisher noch nie so differenziert, innig und unspektakulär agiert, und Haydée hat noch nie zuvor einen derartigen Abstand von ihrer Ballerinenkarriere und dabei enorm an darstellerischer Kraft gewonnen. Wie stark der Einfluss des Regisseurs Marcio Aurelio und des Dramaturgen Helge-Björn Meyer auf diese großen Tänzer gewesen ist, lässt sich kaum schätzen. Aber dass Haydée und Ivo einander zu neuen Höhen angestachelt haben, das ist wohl das Ereignis dieser Saison.

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