Raimund Hoghes Liebesbriefe

"Lettere amorose" beim Festival "Meeting Neuer Tanz" im Stadttheater Remscheid

Remscheid, 29/09/1999

Die liebe Hilde müsse schon entschuldigen, er sei ja selbst sehr überrascht von seiner plötzlichen Heirat. Wie es so geht: Tanzvergnügen, zuviel Alkohol, dann habe der Vater zugeredet - einen anderen Weg gab es eben nicht. Aber jetzt freue er sich auf das Baby. Trotzdem werde er der lieben Hilde das Geld für den kleinen Raimund pünktlich überweisen. Nur sehen, sehen könne man sich in der nächsten Zeit wohl nicht.

Liebesbriefe klingen anders. Und auch die vier weiteren Briefe, die der Choreograph und Performer Raimund Hoghe vorliest, entsprechen nicht der Klischeevorstellung von „Lettere amorose“, wie der Titel seines neuesten Solos heißt, mit dem im Stadttheater Remscheid das nordrhein-westfälische Festival „Meeting Neuer Tanz“ zu Ende ging. Das Schreiben seines Vaters an seine Mutter liest Raimund Hoghe, der zugleich Autor und Fotograf ist und lange Jahre Dramaturg bei Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater war, mit der gleichen Neutralität und Diskretion vor wie die vier anderen: den Brief des kleinen, in Deutschland lebenden türkischen Jungen an seinen Bruder, den einer türkischen Mutter an ihren in Istanbul lebenden Sohn.

Im vierten bitten zwei afrikanische Jugendliche die „Exzellenzen, die Verantwortlichen von Europa“ um Hilfe für ihre Heimat. Anscheinend bekamen sie keine Antwort, denn die beiden, so lautet der lapidare Nachsatz, starben im vergangenen August als blinde Passagiere im Fahrgestell eines Flugzeugs nach Europa. Und „Jussuf, Prinz von Theben“ bittet im letzten Brief einen Arzt um die Einreise in die Schweiz, denn die Möwen vom Zürichsee schrieben so sehnsüchtige Briefe.

In diesem Zitat Else Lasker-Schülers fasst sich der gut zweistündige Abend Raimund Hoghes brennpunktartig zusammen. Es geht um die Sehnsucht nach einem anderen Menschen, in dessen Nähe besser zu leben wäre, um die Sehnsucht nach einem anderen Ort, an dem das Leben erträglicher wäre, und es geht - wie auch in seinen früheren Stücken „meinwärts“, „Chambre séparée“ und „Dialogue with Charlotte“ - um die Erinnerung und den Versuch, sich eine Welt bis zur Unkenntlichkeit anzuverwandeln. Raimund Hoghe möbliert diese Welt mit einer Fülle kleiner Objekte und mit Musik, hauptsächlich Liedern von hoher emotionaler Dichte, gesungen etwa von Jacques Brel, Melina Mercouri oder Peggy Lee. Sie strukturieren seine ruhigen repetitiven Handlungen: Mit Holzstäbchen legt er Häuser auf den Boden, dann kippt er einen chaotischen Mikado-Schwung daneben, später öffnet er die Häuschen und zerstört sie dadurch. Er tunkt Blumen in eine Schale mit Wasser, balanciert auf japanischen Schuhen unter einem Schleier, stemmt eine Hantel, zaubert mit einer CD Lichtkreise an die dunkle Wand. Vor allem aber legt er Tücher aus, macht es sich darauf bequem, paddelt mit den Beinen, faltet sie wieder zusammen. So entstehen auf der großen leeren Bühne temporäre Räume, die kurz bewohnt und schon wieder neutralisiert werden.

Raimund Hoghe lässt sich mit seinen ritualisierten anmutigen Aktionen Zeit. Am Angang und Ende steht er mit zwei anderen nur da und hört Musik von Monteverdi zu. Oft macht er nur wenige Bewegungen pro Lied. Dabei überschreitet er permanent die fragwürdige Grenze zwischen Gesten aus dem Alltag und Tanz: ein Verhüllen des Gesichts, ein Aneinanderlegen der Hände, ein kurzer Spurt. Im Diskurs über den Körper hat Hoghe (im virtuellen Konzert etwa mit Jérome Bel und Xavier Le Roy) seine eigene unverwechselbare Stimme, da in seinem klug inszenierten Körper die Rede von Norm und Abweichung, von den sozio-kulturellen Einschreibungen zur Performanz kommt. Der Armkreis, die Beugung nach vorne, der Ausfallschritt im Profil gestehen seinem verformten Oberkörper ein Eigenleben zu. Er stellt seinen Körper, der - mit einem Buckel - nicht der Norm entspricht, in Aktionen aus, die klar und formschön sind, abstrakt und distanziert trotz des Pathos, der aufbrandenden Gefühle der Musik. Mit zäher Beharrlichkeit konzentriert sich Raimund Hoghe auf das, was er tut. Irgendwann beginnen wir uns selbst darin zu sehen.

Kommentare

Noch keine Beiträge