„Mein Berlin“

Horst Koegler über seine Anfänge als Ballettkritiker im Berlin der Fünfziger Jahre

oe
Stuttgart, 14/05/2012

Es sollte eine Reihe werden, in der Horst Koegler in Abschnitten über die verschiedenen Jahrzehnte seiner gelebten Tanzgeschichte berichtet. Prof. Ralf Stabel, Schulleiter der Staatlichen Ballettschule Berlin, hatte Koegler dazu überredet seine Erfahrungen für die tanznetz.de-Leser niederzuschreiben. Nun hat Horst Koeglers Tod dieses hoffnungsvolle Projekt verhindert. Wir sind aber froh, Koeglers Anfänge als Kritiker im Berlin der 50er Jahre als letzten Beitrag seines koeglerjournals publizieren zu können.

Koegler und Berlin: das ist eine lange Story – fast achtzig Jahre lang! Denn die Erinnerungen gehen zurück bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Geboren wurde ich in Neuruppin, 75 km vor Berlin, wo mein Vater eine Kraftfahrzeugwerkstatt hatte, von der er hoffte, dass ich sie eines Tages übernehmen würde. Aber ich hatte nicht das mindeste Interesse an allen technischen Dingen, machte lieber Kasperletheater, zauberte und trat mit meiner Schwester in Vorstellungen in der Garage auf, bei der sie Cosi spielte, während ich Tutte war. Hauptsächlich habe ich aber Klavier gespielt, vierhändig, das ganze sinfonische Repertoire von Haydn über Mozart, Beethoven, Schubert und Schumann bis zu Brahms: Die Mühle im Schwarzwald, Heinzelmännchens Wachtparade. die Petersburger Schlittenfahrt und viele, viele Opern- und Operettenpotpourris – und kein einziges von Wagner.

Bei Geschäftsbesuchen meines Vaters in Berlin fuhr die Familie im Auto mit, und so kam ich zu meinen ersten Theaterbesuchen, bei Peterchens Mondfahrt und ein paarmal zu den Varietévorstellungen im Wintergarten – der stand da, wo heute das Maritim-Hotel am Bahnhof Friedrichstraße steht: in den bunten Programmen fand ich die Tanz-Duos der Geschwister Höpfner am schönsten (ganz wie Adolf Hitler, der auch den Kaiserwalzer der beiden Schwestern am meisten mochte). In der alten Philharmonie in der Bernburger Straße hörte ich meine ersten Philharmonischen Konzerte und im Bach-Saal am Lützowplatz ein paar Beethoven-Sonatenabende von Wilhelm Kempff, der der Onkel meiner Klavierlehrerin und gelegentlich in Neuruppin zu Gast war, und mit dem ich dann vierhändig Klavier gespielt habe (woraufhin ich meine rechte Hand als Ikone betrachtete, die ich eine Woche lang niemand anderem gab). Ich spielte auch Orgel und hatte ein Dorf in der Nähe, wo ich alle Gottesdienste, Hochzeiten, Taufen und Trauerfeiern spielte, und dafür von den Bauern mit Lebensmittel und fünf Mark Taschengeld belohnt wurde. Damals wollte ich eigentlich der Nachfolger von Wilhelm Furtwängler als Chef der Berliner Philharmoniker werden und unbedingt am Kurfürstendamm wohnen. Aber das habe ich nicht geschafft. Da kam mir gleich nach dem Krieg Sergiu Celibidache zuvor. Als Schüler war ich Pimpf beim Jungvolk, dann Hitlerjunge – wo ich ständig in Konflikt mit meinem Fähnleinführer geriet, weil ich sonntags immer den Gottesdienst in der Kirche spielte, während doch am Sonntagvormittag immer die vormilitärische Ausbildung war. Aber fürs Militär und Uniformen hatte ich überhaupt nichts übrig. Mit der Klasse vom Gymnasium ging´s dann als Marinehelfer zur Luftabwehr in die Nähe von Wilhelmshaven, anschließend zum Arbeitsdienst und am 1. Januar 1945 als Marineartillerist zur Wehrmacht nach Husum und Sylt.

Während sich die meisten Kameraden zur Waffen-SS oder zu den U-Booten gemeldet hatten, hoffte ich bei der Marineartillerie irgendwo an der Küste von Norwegen für den Rest des Krieges eine ruhige Kiste schieben zu können. Denn ich wollte nur lesen und Klavier spielen. Stattdessen wurden wir zur Verteidigung des Kaiser-Wilhelm-Kanals befohlen, gerieten dort in englische Gefangenschaft, wo es mir aber ganz gut ging, weil ich als amateurhafter Dolmetscher eingesetzt war. Das Einzige, was ich in der Schule gründlich gelernt hatte, war der Englischunterricht gewesen. Deutsch war mir gründlich verhasst, denn da wurde der Wehrmachtsbericht durchgenommen und an deutscher Literatur das Nibelungenlied und die Edda – was mich zu einem lebenslangen Anti-Wagnerianer gemacht hat, der ich auch heute noch bin. Ich kam dann aber bald frei und konnte mit geschenktem Abitur gleich das erste Nachkriegssemester 1945/46 an der Universität Kiel studieren: Germanistik, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Englisch – und alles was mich sonst noch interessierte. In Kiel habe ich auch meinen ersten reinen Tanzabend gesehen: das war Palucca im Kino – sonderlichen Eindruck hat der nicht auf mich gemacht.

Meine Familie war noch in Neuruppin, und so entschloss ich mich, in die Ostzone zu gehen – an die 1947 neugegründete Theaterhochschule in Halle an der Saale, wo ich Schauspiel, Dramaturgie und Regie studierte und auch schon – unter Pseudonym – Opernkritiken zu schreiben begann – was mir fast eine Relegation eingebracht hätte, da ich gewagt hatte, meine Lehrer in der Zeitung zu kritisieren. Von der Hochschule in Halle ging ich 1947 ins Engagement ans Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz – als Dramaturg und Regieassistent. Ich konnte dort auch bereits meine ersten Opernregien machen (als 21jähriger Jungspund) – „Hoffmanns Erzählungen“, „Margarethe“ und Mozarts „Entführung“. Irgendwie hatte es mir der Tanz angetan – hauptsächlich der hübschen Jungen wegen –, und keine Inszenierung durfte ohne eine Balletteinlage stattfinden, in der „Entführung“ musste bereits die Ouvertüre getanzt werden und natürlich der „Türkische Marsch“, der extra eingelegt wurde – das sollte mal heute mir irgendein Regisseur vorzusetzen wagen! In der „Puppenfee“ war ich als Schotte besetzt, es war der erste und einzige Ballettauftritt meines Lebens. In „Margarete“, der Faust-Oper von Gounod, gibt es bekanntlich eine große Walpurgisnacht-Balletteinlage. Von Görlitz aus fuhr ich viel nach Berlin, sah dort großes Theater, auch die berühmte „Abraxas“-Inszenierung von Janine Charrat, in der sie als Teufelin mit einer nackten Brust auftrat, was damals eine Sensation war – also musste in meiner Görlitzer „Margarethe“ die Ballettchefin auch so auftreten. Das gab einen kleinen Skandal, aber die Feuerwehrleute meldeten sich zu den „Margarethe“-Vorstellungen freiwillig zum Dienst, und jedermann wartete darauf, dass sich die Ballerina aus ihrem Bademantel wand und mit einer nackten Brust auf die Bühne stürmte. Alle Vorstellungen waren ausverkauft.

Ich saß unterdessen in meinem Dramaturgenbüro, wohin die Kollegen von der Oper und vom Schauspiel kamen – Görlitz war (und ist) bekanntlich Stadt an der deutsch-polnischen Friedensgrenze – damit ich ihnen bei dem Abfassen ihrer politischen Ergebenheitsadressen behilflich sein konnte: „Aber bitte formuliere das so, dass man uns später keinen Strick daraus drehen kann!“ Doch die Politisierung des Theaters schritt derart rapide voran, dass ich mir als Dramaturg schließlich wie ein Politkommissar des Theaters vorkam, was mir denn doch rasch zu viel wurde. Und so ging ich gegen Ende der Spielzeit 1950/51 vom Theater weg, setzte mich in Berlin in die S-Bahn, fuhr nach Westberlin, meldete mich dort als Ost-Flüchtling, wurde auch anerkannt und zu Straßenbahngleis-Notstandsarbeiten am Bahnhof Zoo eingesetzt. Es ging mir ziemlich dreckig, aber ich wollte doch immer ins Theater und Pressekarten haben, und so fing ich wieder zu schreiben an – was ich übrigens auch am Görlitzer Theater über Dresdner Staatsopernaufführungen getan hatte. Dazu brauchte ich Fotos, und dafür schickte mich das Pressebüro der Städtischen Oper zu Siegfried Enkelmann, der der führende Ballettfotograf in Berlin war. Er und seine Frau nahmen mich sehr freundlich auf und hatten Mitleid mit meiner armseligen Existenz und rieten mir: Warum schreiben Sie über die Oper, da haben Sie so viele andere rivalisierende Kollegen – konzentrieren Sie sich aufs Ballett, das ist die Kunstgattung, die im Kommen ist.

Gesagt getan! Bei Enkelmann lernte ich Tatjana Gsovsky kennen, die mich in ihr Studio in der Fasanenstraße einlud, Jens Keith und Gustav Blank, die beide Ballettmeister an der Städtischen Oper waren (damals im heutigen Theater des Westens beheimatet), Liselotte Köster und Jockel Stahl, die beide Tänzerstars an der Städtischen Oper waren. Blank hatte sein Studio in der Kalckreuthstraße, und bei Enkelmann, Gsovsky und Blank begegnete ich dann all den Persönlichkeiten, die im Berliner Ballettleben eine Rolle spielten: Tänzer wie Trofimowa, Deege und Preisser, Reinholm, Köchermann, van Dyk, Leistner, Harald Kreutzberg, Dore Hoyer, das Team, das Tatjana Gsovsky für die Produktion von Hans Werner Henzes „Der Idiot“ mit Klaus Kinski um sich versammelt hatte, Irène Skorik, Harald Horn, Wiet Palar, Ilse Meudtner, Deutschlands feurigste Spanierin, José Udaeta und Susana und wer sonst noch alles nach Berlin kam.

Ich war genau im richtigen Augenblick nach Berlin gekommen, 1951 – und blieb die ganzen fünfziger Jahre. Das waren die Luftbrücken-Jahre, mit ihren ständigen politischen Aufregungen und Bedrohungen, aber es gab noch keine Mauer, und man konnte sich zwischen Ost und West frei bewegen. Und ich war also Flüchtling, schrieb für alle möglichen Gazetten und Publikationen für so gut wie kein Geld, kam aber überall zu Pressekarten – sogar in Ostberlin, wo ich zusammen mit Grotewohl und Ulbricht in Premieren bei Brecht und Dessau war. Ich schrieb auch für den „Monat“ des Kongresses für kulturelle Freiheit der Amerikaner, durch deren Redaktion ich mit vielen amerikanischen Berlin-Besuchern in Berührung kam – auch mit Lotte Lenya, der Witwe von Kurt Weill, die mit einem amerikanischen Mann verheiratet war, der kein Deutsch sprach, und für den ich als Dolmetscher fungierte (ich hatte einen amerikanischen GI als Freund, der mir beim Abfassen meiner englischen Texte behilflich war, denn ich begann damals auch für englische und amerikanische Magazine zu schreiben, deren Deutschlandkorrespondent ich noch heute bin). Und dieser amerikanische Mann von Lenya war ein literarischer Editor, der mir Dutzende von Amerikanern zuführte, wenn sie nach Berlin kamen, darunter Truman Capote, Christopher Isherwood und Wystan H. Auden, den Textdichter von Strawinskys „Rake´s Progress“.

Mit Lenya und ihrem Mann waren wir auch bei Brecht zu Besuch, wo ich für den Amerikaner dolmetschte. Was war das für ein Berlin, diese fünfziger Jahre! Wenn Lenya erzählte, waren wir mitten drin in den sagenhaften zwanziger Jahren der Weimarer Republik, bei der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ im Theater am Schiffbauerdamm (dem heutigen Berliner Ensemble), bei den Revuen mit Fritzi Massary im Metropol-Theater und den spektakulären Reinhardt-Produktionen im Großen Schauspielhaus, dem nachmaligen Friedrichstadt-Palast. All das schien wiederaufzuleben im Berlin der Fünfziger Jahre. Die tollen Premieren! Die „Abraxas“-Produktion von Janine Charrat – das war das Faust-Ballett von Werner Egk, das in München nach der Uraufführung vom damaligen Kultusminister Hundhammer wegen der Schwarzen Messe verboten worden war, und das nun in Berlin über hundert Aufführungen erlebte, die Uraufführung der „Weißen Rose“ von Fortner, die Jens Keith an der Städtischen Oper herausbrachte, das „Preußische Märchen“, die Ballettoper von Boris Blacher über den Hauptmann von Köpenick, die Gustav Blank an der Städtischen Oper choreographierte, schließlich die beiden Blacher-Ballette „Hamlet“ und der hinreißend von Ponnelle ausgestattete „Mohr von Venedig“ mit Deege und Reinholm, die dann die Spielpläne der fünfziger und sechziger Jahre beherrschten, der skandalumwitterte „Rote Mantel“ von Luigi Nono, den Tatjana ebenfalls an der Städtischen Oper zur Uraufführung brachte und geradezu als Sensation die Berliner Einstudierung der gerade in München uraufgeführten „Dame und das Einhorn“ von Jean Cocteau und Heinz Rosen.

An der Staatsoper, die damals noch im Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstraße ihr Ersatzquartier für das ausgebombte Haus Unter den Linden hatte, waltete erst Daisy Spies als Nachfolgerin für Tatjana Gsovsky, die als erste Staatsopern-Ballettchefin nach dem Krieg schon bald mit den sowjetischen Aufsichtsbehörden in Konflikt geraten und nach Südamerika emigriert war, dann die aus Leipzig gekommene Lilo Gruber, eine politlinientreue Funktionärin, an die ich mich heute noch als Choreographin von Chatchaturians „Gajaneh“ erinnere – aber die bei weitem kreativere Choreographin war Grita Krätke, die ein paar feine Kammerballette herausbrachte, und die zu großer Form auflief, wenn Sie mit Claus Schulz zusammenarbeitete, der zunächst an der Komischen Oper tanzte und dann der Superstar an der wieder aufgebauten Staatsoper Unter den Linden wurde – und der dort eine Popularität genoss, wie sie kein westdeutscher Tänzer je besaß, auch kein Peter van Dyk, der von Berlin über Wiesbaden nach Paris ging und dort als bisher einziger Deutscher Étoile an der Oper wurde. Und auch kein Reinholm, der dann an der Städtischen und später der Deutschen Oper Karriere machte und Startänzer des von Tatjana Gsovsky immer wieder neugegründeten, immer wieder Pleite machenden und wieder neu ins Leben gerufenen Berliner Balletts wurde.

Die Fünfziger Jahre des Balletts in Berlin, das waren aber noch zwei weitere Kompanien. Das Ballett der Komischen Oper, bei dem anfangs die Ballettmeister einander die Klinke in die Hand gaben – also VOR Tom Schilling, wo sogar ein Jean Weidt, der aus der Arbeiter-Tanzbewegung der Zwanziger Jahre kam, eine Zeitlang Chef war und zum Teil mit Amateurtänzern eine erste „Schwanensee“-Suite wagte. Dann die rassige „Spanierin“ Ilse Meudtner, und schließlich Getrud Steinweg, die dort eine hervorragende „Scheherazade“ inszenierte, mit Georg Groke, dem neben Kreutzberg vielleicht ausdrucksstärksten modernen deutschen Tänzer und dann auch noch einen hinreißenden „Chout“ von Prokofjew – die einzigen Ballettvorstellungen der damaligen Zeit, an die ich mich lebhaft erinnere und in die ich ein paarmal gegangen bin. Und noch ein weiteres Ballettensemble tanzte oben in der Schönhauser Allee, im Metropol-Theater, geleitet von Anni Stoll-Peterka, mit Rita Zabekow als rassige Hauptsolistin, von der ich ein paar sehr komödiantische Ballette in Erinnerung behalten habe, und ein „Vogelscheuchen“-Ballett zu den Slawischen Tänzen von Dvořak.

Welch eine Zeit, welch eine tänzerische Vitalität! Ein paar moderne Tänzerinnen und Tänzer versuchten an ihre Erfolge während der Zwanziger Jahre anzuknüpfen. Aber das blieben vereinzelte Beispiele. In Ostberlin fiel Marianne Vogelsang schon bald in Ungnade. In Westberlin, wohin Mary Wigman aus Leipzig übergesiedelt war, gingen von ihrem Studio wenig Impulse aus – dort studierten hauptsächlich junge Amerikaner und Japaner. Sie selbst ist nur noch ein einziges Mal aufgetreten, zusammen mit einer Gruppe von Schülern am 11. Januar 1953 im Hebbel-Theater. Keiner, der an jenem Sonntagnachmittag dabei war, wird jemals ihre Verkörperung der „Seherin“ vergessen, die zu einer Größe von antiker Monumentalität aufwuchs Auch ihr Auftreten erfolgte im Rahmen der vom Senat veranstalteten Stunde des Tanzes, die dem Nachwuchs Gelegenheit bot, unter dem Protektorat prominenter Vertreter ihres Fachs sich der öffentlichen Kritik zu stellen. Von den Konzertdirektionen oder in eigener Regie veranstalteten Tanzabende gab es kaum noch – nur Harald Kreutzberg konnte es sich noch leisten, das Risiko eines eigenen Abends im Titania-Palast einzugehen. All die anderen, Palucca, Meudtner, Edith Türckheim und Maria Merz, Alexander von Swaine und Lisa Czobel, ja selbst die das Berliner Publikum immer wieder zu ungewöhnlichen Beifallsstürmen hinreißende Dore Hoyer konnte nur mit einer kleinen Gefolgschaft für ihre Abende im Hebbel- oder Renaissance-Theater, im Theater am Kurfürstendamm, in der Komödie oder in der Tribüne rechnen. Es war ein Publikum der Eingeweihten, die sich bei ihren Auftritten trafen. Und dazu gehörten auch die paar Kritiker, darunter ein gewisser oe, der in der Welt gelegentlich von sich hören ließ. Ansonsten gab es in Berlin nur einen einzigen Fachkritiker, der übriggeblieben war nachdem Joseph Lewitan und Arthur Michels emigriert waren und andere, wie der einst renommierte Fritz Böhme wegen ihrer nazistischen Veröffentlichungen nicht länger gelitten waren. Der Einzige war Georg Zivier, der in der von den Amerikanern herausgegebenen Neuen Zeitung schrieb. Im Übrigen lag die Tanzkritik in Berlin in den Händen der Musikkritiker, von denen sich Kurt Westpfahl, Friedrich Hertzfeld (der Vater von Konstanze Vernon) und Werner Oehlmann redlich abmühten und eigentlich nur noch eine Frau, Beda Prilipp vom Telegraf, sich als einigermaßen kompetent erwies.

Enkelmanns Rat hatte gefruchtet: oe machte ziemlich rasch Karriere, veröffentlichte 1960 sein erstes großes Buch, „Ballett International“, gab im Rundfunk seine Kommentare ab und war mächtig stolz, als es ihm gelang, in der Welt ein Interview mit Luchino Visconti unterzubringen, der in Berlin weilte als Regisseur der Uraufführung von Hans Werner Henzes „Maratona di Danza“ mit Jean Babilée in der Hauptrolle. 1959 allerdings übersiedelte oe nach Köln, wohin ihn der Verlag Dumont-Schauberg als Musikkritiker einer geplanten neuen Wochenzeitschrift engagiert hatte, die als Konkurrenz zur „Zeit“ gedacht war, die indessen nie über ein paar Nullnummern hinaus gelangte. Doch die Tour d´horizon durch das Ballett-Berlin der Fünfziger Jahre wäre nicht komplett ohne die Erwähnung der Gastspiele ausländischer Gastspiele. Sie waren es, die uns den Kontakt mit dem, was draußen während der Jahre unserer Isolation vor sich gegangen war, wiederfinden ließen – sie waren es, die die verlorengegangenen Maßstäbe wiederaufrichten halfen.

Man musste schon über sehr gute Beziehungen verfügen, wollte man in die ersten, nur für Angehörige der Besatzungsmächte stattfindenden Vorstellungen ihrer Gastkompanien hineingelangen, und es dauerte immerhin zweieinhalb Jahre, bevor die erste der Öffentlichkeit zugängliche Ballettveranstaltung einer ausländischen Truppe stattfand: das Gastspiel des Pariser Ballet des Champs-Élysées Ende Oktober 1947 in der Städtischen Oper. Und auch dann verging noch geraume Zeit, ehe dieser einen Schwalbe der langherbeigesehnte Sommer folgte. Abgesehen von sehr sporadischen früheren Einzelgastspielen (etwa des Londoner Ballet Rambert, des amerikanischen Ballet Theatre, des Grand Ballet du Marquis de Cuevas und der Ballets Jooss) war es der Initiative der Berliner Festwochen vorbehalten, die wichtigsten internationalen Truppen nach Berlin zu bringen: das groß gefeierte englische Sadler´s Wells Ballet mit seiner Super-Ballerina Margot Fonteyn, das Ballett der Königlichen Oper Stockholm mit seiner spektakulären Cullberg-Produktion von „Fräulein Julie“ und die beiden schon genannten Kompanien des Marquis de Cuevas und des Ballet Theatre.

In Ostberlin verfolgte man eine andere Taktik: man verpflichtete einzelne Tänzer aus der Sowjetunion und den Volksdemokratien (wer entsinnt sich nicht der dramatischen Flucht des ersten Solotanzpaares der Budapester Oper, Nora Kovach und Ivan Rabovsky, anlässlich eines Gastspiels der Budapester Staatsoper nach Westberlin?) und ließ sie zusammen mit Sängern und Instrumentalisten in Bunten Programmen (sogenannten Estraden-Konzerten) auftreten – wie ehemals bei den Wunschkonzerten der Nazis. Erst im Mai 1954 kam es – und das auch nur durch einen Zufall – zu einem Gesamtgastspiel eines aus den besten Tänzern des Großen Akademischen Theaters in Moskau und des Akademischen Theaters in Leningrad zusammengestellten Ensembles im Ostberliner Friedrichstadt-Palast. Denn eigentlich hatte die Truppe in Paris auftreten sollen. Doch als die Tänzer schon auf dem Weg an die Seine waren, war das dortige Gastspiel wegen des Vietnam-Konflikts plötzlich abgesagt worden. Endlich bekam Berlin sie offiziell zu sehen, die weltberühmten Stars Ulanowa und Dudinskaja, Strutschkowa und Schelest und ihre Partner Sergejew, Kondratow und Lapauri sowie das Springphänomen Farmanjantz. Es war ein sehr zwiespältiges Erlebnis. Der rückhaltlosen Bewunderung ihrer hervorragenden Technik und ihres nachtwandlerischen Stilgefühls bei den Klassikern stand das große Erstaunen über die hoffnungslose Antiquiertheit ihrer pantomimisch überfrachteten „modernen“ Inszenierungen gegenüber – etwa von Prokofjews „Romeo und Julia“, Glières „Der eherne Reiter“ und dessen noch verstaubterem „Roten Mohn“ sowie Assafieffs „Springbrunnen von Bachtschissarai“.

Sehr viel ungetrübter war das ästhetische Vergnügen an den verschiedenen Folklore-Gruppen aus den östlichen Staaten: beim Alexandrow-, Moissejew- und Pjatnitzki-Ensemble und den Volkstanzgruppen aus Ungarn, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Polen – nicht zu reden von den exotischen Ensembles aus Indien, Japan und den Philippinen sowie der singhalesischen Tempeltänzer. Es kamen Truppen aus Afrika und Südamerika, und es kam vor allem Katherine Dunham mit ihrer hinreißenden „Caribbean Rhapsody“, die zu einem absoluten Höhepunkt der Berliner Nachkriegs-Ballettszene wurde. Und so waren in den Fünfziger Jahren die Weichen gestellt für die Entwicklung der Berliner Szene in den nächsten Jahrzehnten. Klar war, die Signale wiesen in Richtung einer Renaissance des klassischen Balletts. Keine Hoffnung konnten sich die wenigen Übriggebliebenen des modernen Ausdruckstanzes der Zwanziger Jahre machen – der erlebte erst, in der gewandelten Form des Tanztheaters in den späten Sechzigern eine Wiederbelebung, als Protestbewegung gegen das Ballettestablishment der großen Opernhäuser.

Doch bei der Tour d‘horizon durch die Tanzszene des Berlins der Fünfziger Jahre blieb ein Ereignis ausgespart – für den jungen oe, der damals ein Twen war und eben seine ersten Erfahrungen als Ballettkritiker machte, war es DAS Ereignis, das sein ganzes künftiges professionelles Leben entscheidend prägen sollte, und das war 1952 im Rahmen der Berliner Festwochen das Gastspiel des amerikanischen New York City Ballet. Bei den Vorstellungen im Schiller-Theater und in der Städtischen Oper gingen mir Augen und Ohren über, und ich kam nicht aus dem Staunen heraus, angesichts der Ballette von Balanchine und Robbins. „Concerto Barocco“, „Serenade“, „Apollon musagéte“, „Sinfonie in C“, „Die vier Temperamente“ von Balanchine – und von Robbins „Fanfare“ und „Der Rattenfänger“: das war etwas, was ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können: die vollkommene Verbindung von Musik höchsten Anspruchs und die Erweiterung des klassischen Tanzes durch seine Aneignung zeitgenössischer Bewegungsformen. Für mich war es die Geburtsstunde einer aus der Klassik hervorgegangen neuen Schönheit, die zu preisen ich seither, wie Tosca in ihrer großen Arie ‚Vissi d´arte‘, und das sind nun exakt sechzig Jahre, mein weiteres Leben gewidmet habe.

Stuttgart-Berlin im März 2012

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