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Alexei Ratmansky everywhere

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Stuttgart, 18/04/2012

Er hat zwar noch keine eigene Eintragung in der deutschsprachigen Wikipedia, doch die dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Denn schon heute, als demnächst Vierundvierzigjähriger, ist Alexei Ratmansky der Oligarch des russischen Balletts, vergleichbar seinem Landsmann Roman Abramowitsch, einem dieser superreichen Russen mit eigenem englischen Fußballclub. Es würde mich nicht wundern, wenn einer seiner Kollegen nach dem Beispiel von Figaro ein Ballett choreografieren würde: Alex hier, Alex da…

In der jüngsten Ausgabe der amerikanischen Ballet Review (winter 2011-12) – als Vierteljahresschrift für mich die beste Ballettzeitschrift der Welt (die ich kenne), kommt kaum einer der vielen Berichte ohne die Erwähnung von Ratmansky aus (auf dem Titelfoto ist übrigens Pina Bausch in einer Aufnahme der Brooklyn Academy of Music aus dem Jahr 1984). Gleich der erste Report aus Toronto widmet sich A.R.s neuem „Romeo und Julia“ beim National Ballet of Canada – in einem sehr interessanten Vergleich mit der Cranko-Version (die dort seit 1965 auf dem Spielplan steht) – und dabei zieht Cranko keineswegs den Kürzeren. A.R. auch beim Ballett der Pariser Opéra, mit „Psyché“. A.R., wir erinnern uns, jüngst mit „Don Quixote“ beim Holländischen Nationalballett, A.R. mit „Anna Karenina“ bei den St. Petersburger Mariinsky-Iwans. A.R. mit „Flamme von Paris“ beim Moskauer Bolschoi-Ballett, in St. Petersburg übrigens auch mit dem „Buckligen Pferdchen“ und einer DVD „Der helle Bach“ und A.R. mit dem „Nußknacker“ beim American Ballet Theatre (wo er Chefchoreograf ist)! Sollte mich nicht wundern, wenn er demnächst als Choreograf des Eröffnungs-Spektakels der Londoner Olympischen Spiele angekündigt wird.

Auch sonst viel Informatives in besagter Ausgabe der Ballet Review. Dort auch eine sehr positive Rezension von Peter Quanz‘ abendfüllendem „Rodin/Claudel“ aus Montreal – ja, es ist derselbe P.Q. der auch schon fürs Stuttgarter Ballett (und für Chemnitz) choreografiert hat (aber leider nicht hier gehalten wurde, obgleich er genau der „klassische“ Choreograf ist, den die Kompanie so dringend benötigte). Ein anderer ist übrigens der junge Franzose Jean-Guillaume Bart – übrigens kein Verwandter des Pariser Routiniers Patrice Bart –, der an der Opéra kürzlich mit dem Abendfüller „La Source“ reüssiert hat – schon mal von ihm gehört, in der schwäbischen Automobilschmiede? Unbedingt lesenswert ist auch George Jackson aus Washington, der nach seinen Probenbesuchen einen höchst aufschlussreichen Vergleich zwischen den doch sehr verschiedenen Arbeitsweisen des Mariinsky- und des Bolschoi-Balletts anstellt. Aus Chicago erfahren wir, dass „Scarlatti“, „Twyla Tharp´s world premiere for twelve dancers, created for Hubbard Street Dance, is the best thing she has ever done.“ Wir sind gespannt! Friedemann Vogel hat inzwischen als „Dornröschen“-Prinz auch in Hong Kong Furore gemacht. Neugierig gemacht hat mich die sehr ausführliche Kritik von Robert Johnson über Marcia B. Siegels dritten Band ihrer gesammelten Rezensionen, „The Life and Afterlife of Ballet“. Auch in diesem Heft wieder ein seitenlanger London-Report von Clement Crisp, diesem eigenwilligsten aller international renommierten Ballettkritiker (der mich manchmal ganz schön auf die Palme bringt – wie mit seiner Einschätzung von Faurés „Requiem“ als „MacMillan´s faultless realization“.

Die zweitbeste Zeitschrift für mich ist dank ihrer weltweiten Informationsfülle die englische Dancing Times. Dort neben einer Vorausschau auf den vor Berlin auch London heimsuchenden Boris Eifman und seine Kompanie mit „Anna Karenina“ und „Onegin“ – und der Puschkin kann hierzulande natürlich mit besonderem Interesse rechnen („Onegin“ von Cranko ist für die nächste Spielzeit auch von Hamburg angekündigt: eher überraschend, da ja Neumeier mit seinen Bekundungen über seinen Stuttgarter Lehrmeister äußerst sparsam verfährt). Im gleichen April-Heft übrigens auch eine sehr nachdenklich stimmende Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Zustands des Royal Ballet („Notes for the Future“) von Lynn Seymour anlässlich des bevorstehenden Direktionswechsels von Monica Mason zu Kevin O‘Hare – auch dort übrigens eine Uraufführung von A. Ratmansky.



Und so zu Neuem aus Deutschland. Das heißt: eigentlich ist es gar nicht so neu. Denn wenn in Stuttgart Reid Anderson an einem Tag verkündet „Ich atme auf“, weil nämlich der Neubau der Cranko-Ballettschule finanziell endlich gesichert ist, so folgt ein paar Tage später die Warnung des geschäftsführenden Intendanten, dass der Denkmalsschutz und „die Gestaltung der Freianlagen und die für Stuttgart nicht untypische Hanglage ein höheres Kostenvolumen erforderlich machen“, das „abschließend nur die Baufachleute abschätzen können.“ Wird die künftige neue Cranko-Ballettschule für Stuttgart also eventuell das, was für Hamburg die Elbphilharmonie zu werden droht – nämlich ein finanzielles Fass ohne Boden? Immerhin wird verlautet, dass „die Freunde des Staatstheaters mit einer Million Euro sich an den Kosten beteiligen wollen.“ Ob darin wohl auch das Scherflein enthalten ist, das der Cranko-Erbe von den seit bald vierzig Jahren aus der ganzen Welt fließenden Tantiemen für die Aufführung der Cranko-Ballette beisteuern will, ist nicht bekannt. Dabei kennt man in der Direktionsabteilung des Stuttgarter Balletts sehr wohl das kanadische mäzenatische Beispiel des Walter Carson, der zum großen Teil die Kosten der viel bewunderten neuen Schule des National Ballet of Canada in Toronto finanziert hat – zu der das Stuttgarter Ballett bekanntlich enge verwandtschaftliche Beziehungen unterhält. Wie wär´s denn, wenn die Stuttgarter Finanzexperten sich einmal mit dem Cranko-Erben über seine Beteiligung an der Finanzierung des prestigeträchtigen Schulbaus unterhalten würden? Der Neubau der Stuttgarter Cranko-Ballettschule: ein Dauerthema seit mindestens zwölf Jahren! Das andere Stuttgarter Dauerthema ist zwar etwas jüngeren Datums, dafür aber nicht weniger virulent: die beharrliche negative Berichterstattung über die Arbeit des Stuttgarter Balletts durch die Kritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Mögen andere Kollegen die Aktivitäten Reid Andersons und seines Teams in den höchsten Tönen preisen und Stuttgart sogar für die vorderste Plattform der Welt halten, was die Entdeckung kreativer neuer choreografischer Talente angeht, so wenig lohnt für die Lady aus Berlin-Frankfurt der Besuch einer Stuttgarter Ballettpremiere, selbst wenn dort drei Uraufführungen so profilierter Choreographen wie Marco Goecke, Edward Clug und Mauro Bigonzetti angekündigt werden. Etwa aus Zeitgründen? Weil sie nämlich nach jedem Vorstellungsbesuch zwei verschiedene Kritiken anfertigen muss: die erste bereits am nächsten Morgen für das Radio und die zweite dann für die Leser der F.A.Z. Seltsame journalistische Praktiken sind das – besonders für eine Zeitung, die doch für sich in Anspruch nimmt „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“! Vielleicht sollte er einmal vor die Zeitung sehen und nicht nur in Karlsruhe oder zu Paul Chalmer in eine Vorstellung gehen!

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