Die Derniere

Zum letzten Mal in dieser Spielzeit: „Das Fräulein von S.“

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Stuttgart, 08/04/2012

Das hat es auch in Stuttgart bisher noch nicht gegeben: alle Vorstellungen von Christian Spucks neuem Abendfüller „Das Fräulein von S.“ ausverkauft – die ersten bereits vor der Premiere am 10. Februar – und so auch die zusätzlich für Ostersonntag angesetzte letzte, zum Teil neubesetzte, in dieser Spielzeit. Selbst Freunden, die zu den regelmäßigen Besuchern der Stuttgarter Ballettvorstellungen gehören und im Umgang mit dem telefonischen Bestelldienst über die Jahre hinweg ihre Erfahrungen gesammelt haben, ist es nicht gelungen, für die insgesamt neun Vorstellungen (wenn ich mich nicht verzählt habe) eine Karte zu bekommen. Und die Begeisterung des sehr gemischten Publikums für diese letzte „Scudery“ vor dem Weggang Spucks nach Zürich, war so einhellig und anhaltend wie am ersten Abend.

Ich kann mir dieses Phänomen nicht erklären − die Mundpropaganda kann ja doch eigentlich erst nach den ersten Vorstellungen eingesetzt haben. Und ein solcher Publikumsfavorit, dem man alles unbesehen abkauft, ist Spuck auch nach seinen vielen und unbestreitbar erfolgreichen Jahren in Stuttgart nicht. Kommt hinzu, dass „Scudery“ kein „leichtes“ Ballett ist. Ohne die Doppelgängerin-Figur der Schauspielerin Mireille Mossé (auch in dieser letzten Vorstellung – als Conférencier und Gnom in bester Velazquez-Tradition der spanischen Hofnarren (siehe auch Oscar Wilde im „Geburtstag einer Infantin“) – bleiben viele Vorfälle (besonders im zweiten Akt) – schier unverständlich. Auch muss ich gestehen, dass ich Schwierigkeiten hatte, manche der Rollen zu identifizieren: nicht die Hauptpersonen, sondern den Polizeiminister, den Präsidenten der Chambre ardente, den Detektiv und den Rechtsanwalt und einen weiteren Obristen des Königs. Selbst Cardillac erscheint mir zu wenig charakterisiert. (Wenn mich vieles in diesem Ballett an Massine erinnert, so war der in seiner Charakterzeichnung – übrigens auch Cranko – viel charakteristischer). Ich muss da doch gegenüber meiner Premierenbegeisterung ein paar Abstriche machen – sowieso hinsichtlich der mich nicht überzeugenden Musikauswahl so heterogener Komponisten wie Schumann, Glaas, Torke und Donner. Und das lässt mich auch daran zweifeln, dass „Scudery“, in Stuttgart ein ausgesprochener Hit, von anderen Kompanien übernommen wird – in dieser Hinsicht, sind Spucks „Leonce und Lena“ und auch seine „Lulu“ leichter verständlich.

Dass „Scudery“ vom Publikum so begeistert aufgenommen wird – und dass auch ich mit meinen bei mehrmaligem Sehen sich eher verstärkenden – nicht zuletzt dramaturgischen – Einwänden die ganzen 105 Vorstellungsminuten (inklusive ziemlich ausgedehnter Pause) so hingerissen bin, dürfte auch mit der Turbo-Beschleunigung zu tun haben, mit der das Ballett über die Bühne fegt: es wird so bravourös getanzt, dass einem einfach keine Zeit bleibt, über die dramaturgischen Beweggründe nachzudenken. Nicht nachvollziehen kann ich den von ein paar Kollegen geäußerten Vorwurf, es würde zu wenig getanzt. Ich sehe genau das Gegenteil. Und wenn die Choreografie sich an ein paar Grundmuster hält − zum Beispiel in den Armhaltungen mit den Händen vorm Gesicht – so scheinen mir die abgeleitet aus bestimmten Umgangs-Codices der damaligen Zeit, aus den Lehrbüchern über das Fechten (mit den Masken vor dem Gesicht). Keine Einbuße an tänzerischem Furor in dieser Zweitbesetzung – auch wenn Ludmilla Bogart als Scudery die hoheitsvolle Haltung abgeht, die Marcia Hadyée auch in ihrer Buchführung und im Spitzengebirge ihrer endlosen Schleppe bewahrt. Den Cardillac tanzte hier nun Roland Havlicka, als Persönlichkeit sicher nicht so charismatisch wie Martin Rademaker, aber das ist auch der inszenatorischen Unterbelichtung dieser Rolle zuzuschreiben. Das junge Liebespaar wird nach Katja Wünsche und William Moore hier nun von Elizabeth Mason und Alexander Jones getanzt – auf durchaus gleichem Qualitätslevel wie mir scheint. Meine uneingeschränkte Bewunderung gehört aber nach wie vor der Hochspannung, mit der die Tänzer des Stuttgarter Balletts diese Choreografien aufladen und mit scherenschrittartiger scharfer Profiliertheit ausführen. Wow!

 

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