Kaufrausch

„Alice im Wunderland”: MS Schrittmacher bei Karstadt in Berlin

Berlin, 10/04/2012

„Irgendwas ist hier komisch”, meint die telefonierende Dame, und keiner der Umstehenden wird ihr widersprechen wollen; schließlich hoppelt einem nicht alle Tage ein ausgewachsener Hase über den Weg, auch wenn bei Karstadt in Berlin die Osterdekoration noch nicht abgeräumt ist. Wahrscheinlich sind es die Nerven, sagt sich wahrscheinlich Alice; zu Hause ist bei der allein erziehenden Mutter wieder Chaos angesagt, während sie gerade zu einem Vorstellungsgespräch eilt – eine nicht eben unbeträchtliche Zahl Neugieriger dicht auf den Fersen. „Nur für Mitarbeiter” heißt es am Kellereingang, aber wer wie die potentielle angestellte das „Kaninchenloch” passiert, findet sich in einem Wunderland wieder, von dem sich nicht einmal ein Lewis Carroll hätte träumen lassen: Denn in den Kaufhaus-Katakomben stehen unzählige Weihnachtsmänner Spalier, und nebenan drillt ausgerechnet ein Herr Maus seine Mitarbeiter auf Kundenfang.

„Alice im Wunderland” einmal anders. Das Künstlerkollektiv um Martin Stiefermann hat sich der Erzählung von Lewis Carroll auf ihre Weise angenommen und sie aus dem viktorianischen Zeitalter in unserer Gegenwart übersetzt. Das Wunderland: Das ist hier nichts anderes als die Warenwelt. Und die kleine Alice, die mitten hineinfällt in ein Reich der Fantasie: In der Performance von MS Schrittmacher ist sie längst aus ihren Kinderkleidern herausgewachsen und erlebt das gelegentlich durchaus surreale Geschäftsgebahren sozusagen am eigenen Leib. An der Feinbäckerei vorbei, wo ein greinendes Mädchen an der Theke steht, stürzt sie sich hinein in das Kaufgetümmel. Im Fahrstuhl, eine der kurzweiligsten Szenen, erleidet Antje Rose angesichts der Menschenmassen eine Panikattacke. Und unverstanden vom Sprachcomputer enteilt sie in die Abteilung für Damenbekleidung, wo sie von einer Frau Raupe nicht bloß rüschenmäßig, sondern auch in punkto Persönlichkeitsentwicklung mehr oder minder kompetent beraten wird.

All das geschieht bei laufendem Betrieb. Wie von selbst ergeben sich immer wieder Reibungsflächen für das Thema, und wenn die Konfrontation mit der Kundschaft nicht mehr weiterhilft, hat Stiefermann ganz sicher eine Szene parat, die jede Absurdität des literarischen Originals dem Heute glaubhaft anverwandelt. Armin Dallapiccola beispielsweise verkauft sich in der Buchabteilung als der Dieter Sommer, den er bereits in der Vorabend-Soap „Alles was zählt” verkörpert hat. Dass er sich eigentlich als falsche Schildkröte bemitleidet, merkt man erst, wenn man sich die Erzählung in Erinnerung ruft. Wie auch bei der Geschäftsführerin, die sich mit ihren Angestellten streitet. Ihr kaltherziges „Gefeuert” ist nicht weniger gefürchtet als das „Kopf ab” der Königin bei Lewis Carroll.

Alles erscheint in dieser „Alice im Wunderland” ebenso verführerisch wie verrückt. Und weil Stiefermann jeden Einfall auch noch choreografisch unterminiert, besitzt am Ende sein Stück eine Sprengkraft, die man sich ansonsten auch mal gerne für eine Theateraufführung wünscht. Man muss eben nur den richtigen Einfall haben – und natürlich auch die Gabe wie das Geschick, ihn schlüssig umzusetzen. Martin Stiefermann und seine Mitstreiter − Nicky Vanoppen, Jorge Morro, Effi Rabsilber, Gunnar Blume, Angelika Thiele und all den anderen − haben ihn. Über kurz oder lang werden wir ihnen sicher in einem anderen Kaufhaus und vielleicht in anderer Verkleidung wiederbegegnen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern