„Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins. Tanz: Ashley Bouder

„Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins. Tanz: Ashley Bouder

Aus dem Alten und dem Neuen Testament des Balletts

Das New York City Ballet mit Choreografien von Balanchine und Robbins

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Baden-Baden, 17/03/2012

Einunddreißig Jahre und sechs Monate ist es her, dass das New York City Ballet bei den Berliner Festwochen zuletzt in Deutschland zu Gast war. Jetzt ist es zurückgekehrt für eine Woche nach Ludwigshafen (zwei Vorstellungen) und Baden-Baden (drei Vorstellungen) – mit leider nur einem einzigen Programm (das es allerdings in sich hatte): von George Balanchine „Divertimento Nr. 15“ (Mozart, KV 287), „Symphony in Three Movements“ (Strawinsky) und dem „Tarantella“-Duo (Gottschalk/Kay) und von Robbins „Dances at a Gathering“ (Chopin) – mit rund sechzig Tänzern und der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter dem Dirigenten Andrews Sill. Ein Gastspiel, das wie ein Wunder bestaunt wurde und uns bewusstwerden ließ, dass es keine andere Ballettkompanie in der Welt gibt, nicht in London, Paris, St. Petersburg oder Moskau, geschweige denn in Hamburg, Stuttgart oder München, die so geprägt worden ist vom Stil ihres Gründers, das heißt von dem Stil George Balanchines (Béjart und Forsythe als Namensgeber ihrer Kompanien kann man nicht zum Kanon der klassischen Kompanien rechnen).

So gesehen, kann man Balanchine mit Luther vergleichen, der mit seinem Thesenanschlag in Wittenberg den Geist der evangelischen Kirche geprägt hat: hier höre ich, hier tanze ich, ich kann nicht anders, so wahr mir Gott helfe! Und so glichen die Abende in Ludwigshafen und Baden-Baden der Verkündigung des Testaments des klassischen Balletts, und zwar des Alten wie des Neuen Testaments, basierend auf Mozart, Chopin und Strawinsky. Was haben wir in diesen 31 Jahren nicht alles über uns ergehen lassen: die Renaissance des abendfüllenden Handlungsballetts im Gefolge der Lawrowsky, Cranko und Neumeier, die Rekonstruktion der Klassiker des 19. Jahrhunderts, die von Diaghilews Ballets Russes inaugurierte Moderne, die außerballettistische Opposition des Tanztheaters à la Pina Bausch und Johannes Kresnik, die postmodernen Aventuren der Junioren-Generation. Um jetzt daran erinnert zu werden, was das wahre Ballett ist, nach den Apokryphen von „La Fille mal gardée“ und den Taglionis bis zu den Zarenklassikern von Petipa und seinen Nachfolgern. So gesehen kommt Balanchine wirklich die Rolle eines Luthers der Danse d´école zu, mit seinem „Apollon musagete“ von 1928 als Verkündigung der Geburt des Tanzes aus dem Geist der Musik und der Vereinigung der beiden Künste in idealer Synthese.

Und jetzt muss ich wieder einmal ganz persönlich werden und daran erinnern, dass dies ein JOURNAL ist und keine Kritik, wie man sie in einer breit gestreuten Auswahl im „tanznetz“ nachlesen kann. Denn hier muss ich bekennen, dass mich das Erlebnis Balanchines und des New York City Ballet vor genau sechzig Jahren beim ersten deutschen Gastspiel der Kompanie anlässlich der Berliner Festwochen gleichsam umgepolt hat. Schon als Schüler musikprogrammiert, mit Mozart (anstelle des von den Nazis favorisierten Wagner) als meinem Musengott, war ich als ein Opernfan groß geworden (und hatte eigentlich der Nachfolger Furtwänglers als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker werden wollen). Doch die Erstbegegnung mit Balanchine (und Robbins) und dem New York City Ballet bei den Berliner Festwochen 1952 hatten bei mir eine Art Gehirnwäsche bewirkt, die mich von einem Opern-Saulus (Reste stecken auch heute noch in mir) zu einem Ballett-Paulus werden ließen.

Es war ein Initiationserlebnis: eine Taufe, die gleichzeitig eine Hochzeit im Zeichen des Musengottes Apollo war: als Vereinigung der beiden Künste auf Augenhöhe, die für mich bis heute den Maßstab meiner Ästhetik bildet. Bereits im folgenden Jahr fuhr ich (per Mitfahrerzentrale) zum Gastspiel des New York City Ballet nach Stuttgart. Und von 1960 an dann fast jedes Jahr nach Amerika, wo ich die letzten Vorstellungen 1964 der Kompanie im City Center Theatre sah (auch die Uraufführung der „Tarantella“ mit Patricia McBride und Edward Villella) und auch die Eröffnungsvorstellung im neuen New York State Theatre. Das nächste Großereignis des New York City Ballet war dann das Strawinsky-Festival 1972, das mit der Uraufführung von Balanchines „Symphony in Three Movements“ begann – nachzulesen in der „Stuttgarter Zeitung“, die es sich damals noch leisten konnte, ihren Ballettkritiker eigens nach New York zu schicken (wie selbstverständlich auch zur europäischen Erstaufführung von Robbins‘ „Dances at a Gathering“ 1969 wenige Wochen nach ihrer New Yorker Premiere in Monte Carlo.

Ich schreibe das nicht, um anzugeben, wo ich überall dabei war, sondern nur, um daran zu erinnern, wie großzügig die Zeitungen damals (und noch bis in die neunziger Jahre) ihre Kritiker auch auf große und kostspielige Reisen zu den Topereignissen der internationalen Szene schickten. Ist ja doch klar, wie einen derartig gewichtige künstlerische Ereignisse geprägt haben. Es folgten erste eigene Bücher über Balanchine und das amerikanische Ballett, die Mitarbeit in amerikanischen Magazinen und Buchpublikationen – das ist nun alles lange her (bis auf meine gelegentlichen Beiträge in Zeitschriften und im Internet, und der Briefwechsel mit amerikanischen Freunden. Inzwischen war ich allerdings schon lange nicht mehr in Amerika und von den jetzt in Baden-Baden auftretenden Tänzern hatte ich noch keinen auf der Bühne gesehen. Und was ist das für eine junge Tänzergeneration – auch wenn ich keine neue Violette Verdy, Patricia McBride oder Allegra Kent und keinen jüngeren Jacques d´Amboise, Edward Villella oder Nicholas Magallanes unter ihnen entdeckt habe. Sie tanzen jedenfalls mit einer Verve, einem Tempo, ja einer Rasanz und immer mit einer so nachtwandlerischen Musikalität, das einem die Augen (und Ohren) übergehen, als ob sie sich für die nächste Tänzer-Olympiade qualifizieren wollten. Und dabei mit einer so kommunikativen Gutgelauntheit und einem schelmischen Augenzwinkern, dass es einen kaum in seinem Sitz hält. Und berichten dann begeistert davon, wie wohl sie sich auf der großen Bühne des Festspielhauses fühlen und das herrliche Frühlingswetter in den ausgedehnten Parkanlagen genießen. Was sie hoffentlich veranlasst, nicht wieder ein Drittel Jahrhundert bis zu ihrem nächsten Besuch in Deutschland verstreichen zu lassen!

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