Der Fall Semionova

Ein außergewöhnliches Interview

oe
Stuttgart, 09/03/2012

Polina Semionova hat sich zum Spielzeitende vom Staatsballett Berlin verabschiedet und dazu der „Berliner Morgenpost“ ein Interview gegeben, das sie ebenso ehrt wie Volker Blech, den Fragesteller. Denn er hat sie nach allem gefragt, was wir von ihr über ihren ziemlich plötzlich kommenden Entschluss wissen wollen, und sie hat ihm geantwortet, klar, unmissverständlich und überlegt – ohne sich zu beklagen und ohne jeden Vorwurf gegenüber ihren Chefs und Kollegen. Und ohne preiszugeben, wie es denn nun weitergehen solle, denn dazu brauche sie jetzt eine Bedenkzeit. Klar ist jedenfalls, dass sie, die in Berlin verheiratet ist, auch weiterhin von Fall zu Fall in Berlin tanzen möchte, von dessen Publikum sie sich geliebt und verehrt weiß. Worüber man derzeit in Verhandlungen sei.

Aus ihren Worten spricht eine Nüchternheit, wie man sie bei einer Künstlerin ihres Formats selten antrifft. Nichts Divahaftes, keinerlei Primaballerinaeitelkeit, zu der sie doch allen Anlass hätte, denn eine Rivalin auf Augenhöhe gibt es in Deutschland nicht, nicht in Berlin, nicht in Hamburg, nicht in Stuttgart, nicht in München – und wenig in der Welt.

Sie hat in Berlin alles getanzt, was das Repertoire hergab, Klassiker, Malakhovs Prêt-à-porter-Moderne und auch Kreationen, und ihr Chef, Vladimir Malakhov, der sie als Siebzehnjährige in Moskau entdeckt und nach Berlin verpflichtet hat, hat sie zu seiner bevorzugten Partnerin erkoren, wohl in der Hoffnung, dass sie zu seiner inspirierenden Muse werden würde, wie Fonteyn für Ashton, wie Ulanowa für Lawrowsky, wie Haydée für Cranko, wie Farrell für Balanchine. Dass sie es nicht wurde, muss nicht an ihr gelegen haben.

So ist verständlich, dass sie sich, mit siebenundzwanzig Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Karriere angelangt, nach neuen, kreativeren Herausforderungen als sie ihr Berlin derzeit zu bieten hat, umsieht. Wo könnte sie sie finden? In Amerika bei Wheeldon oder Morris, beim interkontinentalen Wanderer Ratmansky? Schlecht vorstellbar bei einem Angehörigen der Vätergeneration à la Grigorowitsch, Taylor, Tharp, bei van Manen oder Neumeier. Man wünscht ihr, dass es ihr wie seinerzeit Fonteyn ergehen möge, als sie in ihrer zweiten Karriere dem flamboyanten Nurejew begegnete (und selbst der hatte ja als Choreograf nie das Format, das ihn als Tänzer auszeichnete). Und man wünscht ihr, dass ihr das Schicksal ihrer Berliner Vorgängerin Eva Evdokimova erspart bleiben möge, geliebt von den Spree-Ballettomanen wie heute „Polina“, von der man nach ihrem Weggang von der Deutschen Oper kaum noch gehört hat.

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