Zwischen Alptraum und Lebenslust

Spuck und Bigonzetti in Dortmund

Dortmund, 13/02/2012

Es ist einfach ein Genuss, die himmelstürmende Dortmunder Kompanie von Xin Peng Wang wachsen und reifen zu sehen. So begeistert sie auch in dem Zweiteiler „Tänzer.Träumen.Lieder“, der Sonntagabend stürmisch gefeierte Premiere hatte, mit neuen Techniken, immer mehr Ausstrahlung und temperamentvoller Darstellung. Ein größeres Kontrastprogramm als Christian Spucks alptraumartige „Sleepers Chamber“-Szenen und Mauro Bigonzettis überbordend lebenspralle „Cantata“ lässt sich schwer denken. 2007 vom Stuttgarter Ballett uraufgeführt, bleibt Spucks 25-minütige Choreografie rätselhaft. Zwar beharrt der Choreograf, der auch das Bühnenbild geschaffen hat, auf einem unpolitischen Inhalt. Business-mäßige Kostüme (Emma Ryott) und Heuschreckensilhouetten (erst kurz zuvor war im Bundestag die „Heuschreckendebatte“ als Metapher für dubiose wirtschaftliche Machenschaften eröffnet worden) scheinen dem aber zu widersprechen.

Zu den pochenden, gelegentlich peitschenden, barschen, lautmalerischen Dissonanzen von Martin Donners Komposition tanzen drei Frauen und fünf Männer. Im Schneegestöber halb unter einen Teppich gekauert erwachen Männer und Frauen als graue Eminenzen in Gehrock oder Frack mit langen Schwalbenschwänzen, stülpen sich wie putzige Wichtelmännchen ebenso dezent graue hohe Tütenhüte über und tanzen allein, zu zweit oder dritt einen geschäftigen Alltag voller Ranküne und Kälte mit Eisesmienen – eben ganz „businesslike“. Nur gelegentlich öffnen sie die Münder zu einem tonlosem verzweifelten Schrei („Holt mich hier ‚raus!“). Was auch immer Spuck in diesem bettlosen „Geschäftsraum für Schläfer“ (doch nicht etwa eine deutsche Beamtenstube??!!) erzählen will - er beschreibt‘s in seiner unverkennbaren neoklassischen Handschrift mit breitem Spagat, hoch schwingenden Beinen, gestreckten Armen, himmelwärts gereckten Köpfen, mit Kullern und Purzeln als stolperten die Kölner Heinzelmännchen des Nachts die Treppe hinunter. Dortmunds Solisten und Solistinnen meistern die hohen technischen Ansprüche mit perfekter, aalglatter Eleganz.

Ganz anders Bigonzettis neapolitanischer Lieder-Potpourri – leider nicht mit den vier Musikerinnen auf der Bühne wie bei Gastspielen des Aterballetto in deutschen Städten vor Jahren. Das mag allerdings auch von Vorteil sein; denn auf diese Weise wird Bigonzettis meisterhaft subtile Choreografie der Szenen auf dem Dorfplatz beim viertägigen Frauenfest – wohl vergleichbar mit der Narrenfreiheit, die Frauen hierzulande an „Weiberfastnacht“ hemmungslos genießen – erst so recht spürbar. Das authentische Flair des neapolitanischen Ambientes zerstört er keineswegs, und diese Natürlichkeit ist das Besondere an „Cantata“. Ausgelassen und laut tanzen die Mädchen, wie Waschweiber klatschen, tratschen und beschimpfen sie sich (köstlich: Allessandra Spada und Rosa Ana Chanza Hernandez), um sich gleich wieder gegenseitig lustvoll die Bäuche zu küssen (Bauchpinseln nennt man so was bei uns wohl), bis ein Mann sie trennt, um selbst mal „ran“ zu dürfen. Viel Wut ist da auch zu spüren – im fulminanten Solo von Esther Perez-Samper etwa und in den Frauenensembles: geballte Fäuste, stampfende nackte Füße, wildes Schütteln der lockigen Mähnen, nach hinten geworfene Köpfe, in die Hüften gestemmte Arme. Solidarität gegen die Mannswelt heißt das Signal sich zusammendrängelnder Mädchen-Klumpen zu reglosem Tableau oder in der Reihe – bis die Machos sich amüsiert unter die Frauen reihen und schließlich, wie zu Beginn, mit ihnen singen. Was für ein lebensbejahender Gruß aus dem Süden! Was für ein reicher Tanzabend!
 

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