„Wenn das so weitergeht …“ : Alexander Carrillo Ahumada & Mayra Wallraff

„Wenn das so weitergeht …“ : Alexander Carrillo Ahumada & Mayra Wallraff

„Wenn das so weitergeht …“

„anderland“, eine Uraufführung von Toula Limnaios

Berlin, 27/11/2011

Ein überlebensgroßer Schatten spaltet sich auf, reduziert auf ein menschliches Maß, werden langsam Gesichter hinter der transparenten Vorhangfolie sichtbar. Ganz nah mit Blick zum Zuschauer wanken sieben Menschen mit emporgereckten Armen und aufgerissenen Mündern; montiert in einen anschwellenden Trommelrhythmus kreisen Nachrichten-Splitter von Krisen, Katastrophen und Politikerdebatten über den Köpfen von Performern und Zuschauern. Die luftdichte Folie fällt. Die Öffnungen des Raumes sind mit Zeitungspapier verstopft, an den Längsseiten stehen einige Zeitungspacken. Mit dieser starken Eingangsszene ist der Fokus dieser einstündigen Szenenfolge konturiert.

Toula Limnaios und ihre künstlerischen Mitstreiter stellen subtil verstörende Bilder menschlicher Angst, allmächtiger psychischer wie physischer Überforderung und Ohnmacht des Einzelnen zur Diskussion. Mensch und Welt – Welt und Mensch – die Risse, die Toula Limnaios in Zeiten der Sprachlosigkeit metaphorisch freilegt, schmerzen. Wie widersteht der Einzelne dem Sturm unserer Zeit? Vier Frauen und drei Männer treiben allein im Vor und Zurück mit kraftlos isolierten Bewegungen. Einzelgesten der Zuneigung, des erschlaffenden Protestes ersterben, weichen der Lust an Gewalt. Eine Frau (Amit Preisman) stürzt vom „Zeitungs-Bett“ direkt in die Arme einer aggressiven Gruppe. Sie klammert sich verzweifelt an Arme, Beine, findet keinen Helfer, wird getreten und über dem Ventilator brutal festgehalten. Das Septett nimmt Zeitungspapier aus der Wand, der Pulk geht diagonal; ferne Schreie mischen sich in das rhythmische Schwenken der Seiten. Es ist diese subtile assoziative Bezogenheit aller darstellerischen Mittel, die den Zuschauer zum intensiven Hinsehen, Hinhören, Mitdenken einlädt und nicht zum passiven Voyeur degradiert.

„anderland“ – zeigt Bruchstücke der Verzweiflung im kontrastiven Zusammenspiel von Bewegungssprache, Musik, Raum und Licht. Skulpturales Tanztheater, das in Zeiten der Geschwätzigkeit die existenzielle Sprachlosigkeit thematisiert, damit der Mensch in seiner existenziellen Not zur Sprache kommt. Mann und Frau streicheln einander, dann beginnen die Finger das Antlitz des Partners zu verformen, sie pressen dem Anderen die Faust in den Mund. Ein weißes Tuch tänzelt zu harmonischen Klängen im Luftstrom des Ventilators; plötzlich liegt eine traumverlorene Schönheit über der Szene, die das Publikum mit kindlichem Lächeln in sich aufnimmt. Erneuter Bruch. Die Performer halten den Ventilator und werfen Zeitungsseiten in den Luftstrom gegen zwei Menschen. Wie Hwan-Hee Hwang und Alexander Carillo Ahumada sich aneinander festhalten, tragen, fallen, taumeln um sich der Nachrichtenflut zu erwehren, einander Halt zu geben und nicht unterzugehen, ist ebenso aussagekräftig wie die Mutation Mayra Wallraffs in der Folienverhüllung zu einer fratzenhaften Rache-Göttin.

Die genau getimte akustische Tonspur von Ralf R. Ollertz gibt den Szenen scharfe Kontur, nah an der Realität und zugleich frei fabuliert und verwoben mit den Abgründen wie Sehnsüchten menschlicher Existenz schafft die Musikcollage leitmotivische Spannungen und inhaltliche Vertiefung. Das verstörende Schlussbild spiegelt Überforderung bis in die Privatsphäre: Ein Mann (Fernando Balsera Pita) japst nach Luft. Der Sound parliert von Kindersterblichkeit, Parlamentsdebatten, Prognosen: „Wenn das so weitergeht …“, während eine Frau (Mayra Wallraff) seinen nackten Körper unentwegt küsst. Er ringt nach Luft. Bewegungsunfähig. Sie verpackt ihn in Folie. Sein Röcheln mischt sich mit Papierrascheln in der Dunkelheit.

Als zweite Uraufführung in der 15-jährigen Jubiläumsspielzeit präsentiert die neu formierte Kompanie der in Berlin wirkenden griechischen Choreografin Toula Limnaios und des Komponisten Ralf R. Ollertz ein Tanzstück der Not am unerträglichen Sein. In der Beschränkung lebt die Sehnsucht nach dem „anderland“ auf. Toula Limnaios gelingt mit ihrem Tänzer-Septett eine intensive bildstarke Szenenfolge über die Auflösung aller Sicherheiten, die sich körpersprachlich eingräbt. Der Mensch will leben und einen kraftvollen Schatten werfen. Mit jedem Verlust von Menschlichkeit gewinnt die Fratze des Inhumanen beängstigende Konturen. Toula Limnaios und ihre neu formierte internationale Kompanie haben das unverwechselbare Potenzial, das changierend Andere in und um uns in singulären Bewegungs- und Bildmetaphern einzufangen. Die HALLE Tanzbühne erweist sich mit „anderland“ erneut als ein unverwechselbarer, energiegeladener Berliner Tanzraum fern jeder inhaltlichen und formalen Beliebigkeit.

Nächste Aufführungen: 1. - 4. sowie 8. - 11. Dezember 2011, 20 Uhr, HALLE Tanzbühne Berlin

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