Mickaël Le Mer / S'poart in „In Vivo“

Mickaël Le Mer / S'poart: „In Vivo“

Sinnsuche und Pathos mit Tempo

Endspurt beim Berliner Festival „Tanz im August“

Berlin, 28/08/2011

Lange passiert nichts. Auf der Szene Kästen hochkant im Dunkel, dazu Herzpochen vom Band. Die Kästen wandern, drehen, werden Türstöcke, durch die man fremde Welten erobert: das Leben. Das tun sechs Männer, kippen die Requisiten, ringen in Duos nach Balance. „In Vivo“, im Leben, haben sie sich zu behaupten, treten durch die Rahmen immer neu ein, treffen in Ansprüngen, Würfen, Fangposen aufeinander, formieren sich gefasst, gehoben zur Plastik. Stets bleiben sie in Kontakt, auch als sie die Kästen zum begehbaren Gebilde stapeln, fügen, anschrägen. Aus Begegnung, Provokation, Drohgebärde werden Duette mit rasant geflogenen Umhebungen, flüssig, geschmeidig, sicher. Verhalten entwickelt sich die Sinnsuche, entlädt sich in virtuosen Sturz-Dreh-Kaskaden, ohne dass artistischer Selbstzweck triumphiert. Man beobachtet einander bis zum Moment des Eingreifens. Dafür ergibt sich im originellen Gruppenstück reichlich Gelegenheit. Unspektakulär endet es in einem Standbild an der Rampe. Was an Mickael Le Mers Choreografie beeindruckt: Sie unterläuft Erwartungen an HipHop als zirzensischen Exzess, unterordnet jenen Tanzstil der Jugend unvordergründig einer Idee; sie setzt eben nicht Teenies ein, sondern muskelbewehrte, weltläufige Dreißiger; sie liefert eine sensible Mixtur aus Akrobatik, HipHop, Tanz und, auf der zeitgenössischen Bühne selten genug, im bewussten Umgang mit Julien Camarenas leiser Musik. Typen versammelt diese 2001 gegründete Gruppe aus La Roche-sur-Yon, ihr Name S’poart vom französischen Wort für Hoffnung scheint Programm einer neuen, humanen Art des Miteinanders.

So potent, wie das letzte Drittel von „Tanz im August“ begann, ging es nicht weiter. Wenn indes von 13 besuchten Gastspielen 10 die Erwartungen an Qualität erfüllten, ist das eine Ausbeute wie lange nicht mehr beim Tanzfest Berlin. Und dass der Tanz wieder physischer geworden ist, die Zeit des selbstbezüglich palavernden Konzeptdiktats vorbei scheint, ist weiterer Vorzug.

Eine Ausnahme macht „Sueur des Ombres“ der 2000 formierten, im senegalesischen Dakar beheimateten Compagnie 1er Temps. Dem Exil-Kongolesen Andréya Ouamba geht es laut Vorankündigung um Kriegserfahrungen. Was seine sechs Akteure im Schummer des Anfangs unverständlich brabbeln, mag just das sein. Wenn ein chefartiger Mann immer wieder einzelne Darsteller rüde ins Lichtkarree ihrer Existenz stößt und zu Fall bringt, dann während der Erzählung die Münder schließt, den Redeschwall so kanalisiert, kann man den Wortsinn erahnen. Kryptisch bleibt dennoch vieles im einstündigen Stück. Starke Bilder gibt es: Mit Bambusstäben flankiert man den Weg einer stummen Rednerin, deren Lebensraum mit denselben Stäben zum kopfbegrenzenden, strangulierenden Dreieck eingeengt wird. Ob die Formation mit grinsenden, zähnebleckenden Mündern unsere Afrika-Klischees meint oder Minstrel-Shows parodiert; ob zeitgenössischer Tanz hier nur postkolonialer Import ist, ohne hinreichend eigene Verarbeitung; welche Dramaturgie greift, bleiben Fragen.

Die stellen sich mehr noch bei Tânia Carvalhos Überchoreografie „Icosahedron“. Ihr Titel bezieht sich auf Rudolf von Labans Raumlehre von den 12 Bewegungsrichtungen des Körpers, grafisch visualisiert durch einen Ikosaeder. Die Portugiesin forscht dem mit 20 Tänzern in applizierten Trikots nach, die sie in vier synchron agierenden Fünfergruppen und zähem Fluss dirigiert. Diogo Alvims Knack- und Knistergeräusch steuert, Dauerdämmer verhüllt die formalen, bisweilen tierhaften Muster mit ein paar chorischen Gliederungen. Nach einer Stunde ohne dynamische Entwicklung verzichtete man gern auf den gleichlangen zweiten Teil.

Auch das als Paukenschlag vorgesehene Festivalfinale ging nicht auf. Ob Sättigungseffekt oder schwächeres Stück: Der Kanadier Édouard Lock, seit drei Dezennien weltweit gefeiert für seinen bahnbrechenden Umgang mit dem Vokabular des klassischen Tanzes, bediente nur, was man erwartete. Auch „New Work“ offeriert Tanz wie im Video-Schnelldurchlauf, greift fatalerweise aber auf zwei Opernthemen zurück: Purcells „Dido und Aeneas“, Glucks „Orpheus und Eurydike“. Fürs Erzählen gibt sich Lock freilich nicht her, ihm geht es um emotionale Essenz, mit Pathos und Pantomime im Eilzugstempo, dauerndem Armgewedel, rasenden Pirouetten auf Spitze, beinflinken Männern mit fliegendem Sakko oder freiem Oberkörper. Statt Kulisse umherirrende Spots, denen die Tänzer folgen, hinter ihnen vier Musiker, Klavier, Cello, Violine, Saxophon, mit Gavin Bryars Dudel-Bearbeitung der Opernpartituren. Bleiben: die explosiv brillanten Tänzer, wenig für einen Wurf.

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