Choreograf oder Arrangeur von Fremdmaterial?

Zum Abschluss der diesjährigen Tanzwerkstatt Europa

München, 12/08/2011

20 Jahre Münchner Tanzwerkstatt Europa (TWE) – das ist schon was. Dass Veranstalter Walter Heun – bei seit zehn Jahren nicht erhöhter städtischer Subvention (112 000 Euro plus Mieten und Basis-Technik) dennoch bis jetzt durchgehalten hat, verdankt er einem Netzwerk von Unterstützern, zu einem großen Teil aber seinen angekoppelten gut belegten Stil- und Technik-Workshops. Obendrein sind Workshop-Teilnehmer eifrige Besucher der abendlichen Vorstellungen.

Gleich vorweg: Die Hoch-Zeiten von Tanztheater und zeitgenössischem Tanz erlebten wir in den 80er/90er Jahren. Heute haben Veranstalter es schwer, ihre Festivals mit Highlights zu bestücken. Dennoch ist es Walter Heun gelungen (mit einem nicht gerade üppigen Gesamtbudget von etwa 250 000 Euro), eine stattliche Palette von Tanztendenzen zu zeigen, auch wenn nicht jeder Abend jubeln ließ. Das von „Luft und Wind“ erzählende Stück „De l' air et du vent“ des Belgiers Pierre Droulers wirkte mit seinen frei aus Hüfte und Schulter geschlenkerten Bewegungen wie ein Nachhall der inspirierenden US-Postmoderne der 70er Jahre. Dem Vergleich mit diesem choreografisch und dramaturgisch durchgearbeiteten Stück von 1996 konnten die neueren Arbeiten nicht immer standhalten.

In dem Performance-nahen Stück „Please“ der Brasilianerin Marisa Godoy über das menschliche Bedürfnis zu gefallen ringen zwei Frauen und zwei Männer – durchgehend im FFK-(Nicht-)Kostüm – mit viel Eitelkeits-Gerede und schweißtreibender Bodengymnastik um Anerkennung, was teilweise nicht ohne ironischen Witz ist. Aber bei Doppelung des Bühnengeschehens per Live-Video und zugespielten Filmen mit Beauty-Queens und Schönheitsikone Marilyn Monroe bleibt das eigentliche, das Live-Nackedei-Ballett, inhaltlich wie auch in der Form äußerst dürftig.

Der Norweger Kenneth Flak möchte, laut Programmheft, die gegenseitige Beeinflussung von Mensch und Technik untersuchen. Das tatsächliche Ergebnis ist eine von Break- und Techno-Dance inspirierte Performance von ihm und einer Partnerin, überflutet in rasender Fülle von Video-Collagen und digitalen Graphiken – also lediglich eine so schon unzählige Male gesehene Addierung zweier Medien. Man könnte die Virtuosität der Bewegung loben, die beabsichtigte Insistenz der Reizüberflutung herausstellen – es bliebe doch dabei, dass sich unser Aufmerksamkeitspotenzial bei Flaks „The Chinese Room“ nach spätestens einer Viertelstunde erschöpft hat.

Natürlich steht es Choreografen frei, andere Medien einzusetzen. Das Regietheater ist ja mit seiner Sample-Technik inzwischen auch voll auf Videos und Projektionen abgefahren, gelegentlich zu gutem Effekt. Aber im Bereich Tanz wird mit Film, Video und (Live-)Projektion mehrenteils choreografische Kurzatmigkeit vertuscht oder eine durchaus annehmbare, aber kleine Tanzperformance zu einem abendfüllenden, aber dadurch eher lähmenden Stück aufgebläht.

Der Franzose Jérôme Bel, der mit einem minimalistischen Konzept-Tanz und Meta-Tanztheater steile internationale Karriere machte, hat sich 2004 der symbiotischen Verbindung mit Tänzerpersönlichkeiten zugewandt. Die von ihm erwählten und zur Zusammenarbeit bereiten Tänzer/Tänzerinnen schreiben in monatelangem Prozess ihren beruflichen Werdegang auf, den Bel dann zu einem „Live-Tänzerporträt“ inszeniert – mit dem jeweiligen Autobiografen als redendem und tanzendem Akteur. In Bels bei der TWE gezeigtem fünftem Porträt, diesmal von Cédric Andrieux, einem ehemaligen Mitglied der Kompanie des legendären US-Choreographen Merce Cunningham (1919-2009), bekommt man also einen für Tänzer so typischen harten, oft schmerzhaften Lebensweg erzählt und – mit kurzen Sequenzen vorwiegend aus Cunningham-Stücken – eine Nachhilfestunde in Cunninghams Arbeitsweise und Stil. Andrieux macht das sehr gut (einen Eindruck vermitteln Video-Ausschnitte, unter anderem auf Youtube), vermag auch die Zuschauer mit seiner Ernsthaftigkeit zu berühren. Dabei ist allerdings Bel, dem man ja international den Titel „Choreograf“ zuerkennt, nicht mehr als ein Arrangeur von Fremdmaterial.

Insgesamt gewinnt man den Eindruck, bestätigt nochmals bei dieser TWE, dass in der Tanzwelt nur noch wenige, die sich „Choreograf“ nennen, wirklich choreografieren können.

Wenn einer sich diesen Titel verdient hat, obwohl er ursprünglich von der Regie her kommt, ist es der in Deutschland arbeitende Franzose Laurent Chétouane (seit 2000 Inszenierungen in Hamburg, Köln, München/Kammerspiele, Weimar) mit seinem zwar zu langen, aber doch sehr beeindruckenden jüngsten Tanzstück „horizon(s)“. Sein Vokabular ist extrem schlicht: im Vorwärtsschreiten ausgebreitete und gebeugte „empfangende“ Arme; sich dem Partner entgegenstreckende Arme; leicht in die Knie gehende Körperhaltung; einfache Drehungen; zwillingshaftes raumgreifendes Partnerlaufen; Stillstand, der atmet. Aber gerade durch die Schlichtheit gewinnt Chétouanes knapper Tanzwortschatz seine Individualität. Seine Raumwege sind mit ausgesprochen rhythmisch-bildnerischem Sinn fein komponiert. Und wie seine drei Tänzer auf diesen unsichtbaren Bahnen agieren, mit einer absoluten inneren Konzentration, einer absolut Pathos-losen „reinen“ Präsenz – das schafft, zu einem unaufdringlich stimmigen Klangteppich (Leo Schmidthals) eine fast andächtige Atmosphäre, in der alle Bewegung wie gerade in diesem Moment neu erschaffen scheint. Chétouane hat etwas zu sagen. Und dafür hat er hart gearbeitet, was man, hélas, von vielen sogenannten Tanzschöpfern nicht sagen kann. – Es ist also doch noch Hoffnung für den zeitgenössischen Tanz.

Kommentare

Noch keine Beiträge