Bewundert und beneidet

Zum Tod von Jochen Schmidt

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Stuttgart, 11/10/2010

In einem der frühen deutschen Ballettlexika steht sein Name noch zwischen Schlemmer, Oskar und Schmucki, Norbert. Schmucki Who, fragen wir heute. Keine Frage, wo er denn stünde, wenn es heute noch ein verlässliches deutschsprachiges Ballettlexikon gäbe! Hier fände er wohl eher zwischen Schlömer, Joachim, und Schönberg, Arnold, seinen ihm angemessenen Platz: Jochen Schmidt, geboren 1936 in Borken/Westfalen, der gestern, vierundsiebzigjährig, nach längerem Leiden in Düsseldorf gestorben ist. Seinen Namen erschrieb er sich von 1968 an als Tanzkritiker der FAZ – der er war und blieb bis zum Sommer 2003, als er aus bis heute niemals aufgeklärten Gründen plötzlich ausgebootet wurde.

Um seinen Platz in der internationalen Ehrenlegion der Kritiker brauchte er sich da schon keine Gedanken mehr zu machen – zu vielfältig waren seine Aktivitäten, als Journalist, als Buchautor (nicht nur über den Tanz, sondern auch als Verfasser einer Geschichte des Kriminalromans), als ständiger Mitarbeiter diverser Rundfunkstationen, als Künstlerischer Leiter des NRW-Tanzfestivals und als Botschafter des deutschen Tanztheaters auf vielen Vortragsreisen in den Goethe-Instituten rund um den Globus mit den Schwerpunkten Indien und Ferner Osten.

Geschrieben hat er schon in Schüler-Journalen und seine Lehrjahre als Redakteur hat er nach seinem Studium der Nationalökonomie in Münster, Köln und München dann beim Düsseldorfer „Mittag“ verbracht. Doch seine eigentliche Stunde schlug mit der Emanzipation des Tanztheaters aus der Umklammerung der Opern-Betriebsstrukturen – mit den Produktionen von Pina Bausch, Johann Kresnik, Reinhild Hoffmann, Gerhard Bohner und Susanne Linke. Was ihn nicht daran hinderte, zu einem der wegweisenden Kommentatoren des Werkes von Hans van Manen zu werden, über den er das grundlegende „Der Zeitgenosse als Klassiker“ schrieb. Ich kann nicht behaupten, als damals in Köln ansässiger Journalist den steilen Aufstieg des Kollegen im nahen Düsseldorf ganz neidlos betrachtet zu haben, zumal da ich erhebliche Skrupel den Tanztheaterchoreografen gegenüber wegen ihres legeren Umgangs mit der Musik hatte (und habe).

Aus dieser Perspektive gesehen, erklären sich unsere unterschiedlichen Sichtweisen – ich hatte mein Schlüsselerlebnis bei den Gastspielen des New York City Ballet mit den Choreografien von Balanchine im Berlin der frühen fünfziger Jahre. Bei Schmidt bin ich mir nicht darüber im Klaren, ob es für ihn ein ähnliches Erlebnis gab, das seine Einstellung zum Tanz auf der Bühne prägte. Auf gar keinen Fall würde ich ihm im Gegensatz zu meiner apollinisch geprägten Tanzästhetik eine prinzipielle Bevorzugung dionysischer Tendenzen unterstellen. Dafür habe ich ihn zu oft hingerissen von Vorstellungen des damaligen Kirow-Balletts und eben des New York City Ballet erlebt. Und die privilegierte Stellung, die wir beide van Manen gegenüber zugestehen, fungiert eindeutig als gemeinsamer Nenner unserer gemeinsamen Liebe zum Tanz.

In der Tat war es das gemeinsame Erlebnis eines der großen Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, das unser bis dahin eher kühl registriertes Beobachten der Reaktion des Kollegen umschlagen ließ in ein eher von Empathie gespeistes Verhältnis: die Erstbegegnung mit Jerome Robbins‘ „Dances at a Gathering“ kurz nach ihrer New Yorker Premiere im Sommer 1969 in Monte-Carlo. Von da an ging es aufwärts mit unserer Sympathie für einander, gipfelnd in der keineswegs ganz unkritischen Laudatio, die er dann später bei der Verleihung des Cranko-Preises an mich gehalten hat. Mich dafür zu revanchieren, hat er mir leider keine Gelegenheit mehr gegeben. What a pity! Denn gar zu gern hätte ich ihn wissen lassen, wie sehr ich ihn in all diesen Jahren und Jahrzehnten bewundert und, ja, beneidet habe, für seine immer so dicht am Gegenstand seiner Kritik bleibende Beschreibung dessen, was da auf der Bühne vor sich gegangen war. Etwas, vor dem ich mich immer gern gedrückt habe, und was er in so meisterlicher Art beherrschte. So sehr, dass ich zugeben muss, oft bei ihm – in leicht variierter Form – abgeschrieben zu haben.

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