Ein Solitär des deutschen Ballettrepertoires

Mit „Fließenden Welten“ reagiert John Neumeier auf die Herausforderungen des japanischen Theaters

oe
Hamburg, 26/06/2010

Die dritte Vorstellung des japanisch inspirierten Abends der „Fließenden Welten“, über dessen Premiere am 13. Juni Annette Bopp hier detailliert berichtet hat. Auch an diesem Abend wieder ein volles Haus, mucksmäuschenstill dem anspruchsvollen Programm lauschend, am Ende umso beifallsfreudiger. Es ist schon erstaunlich, wie Neumeier sein Hamburger Publikum in 36 Jahren erzogen hat – ob Cranko das wohl auch in Stuttgart geschafft hätte, wäre ihm länger zu leben vergönnt gewesen? An „Sophistication“ lassen sich die Freunde des Hamburger Balletts heute von keinem kontinentalen Publikum übertreffen.

Das Programm, die beiden Ballette „Seven Haiku of the Moon“ und „Seasons – The Colors of Time“, entstanden vor rund zwanzig Jahren für The Tokyo Ballet, stellt im Rahmen des deutschen Repertoires einen absoluten Sonderfall dar: ein Solitär, auch in der zugeschliffenen tänzerischen Qualität – welch eine Homogenität, welch eine Eleganz, welch eine hamburgisch-hanseatische Dignität! Welch ein Weg, den Neumeier in dem nun bald halben Jahrhundert seit seinem Stuttgarter Debüt zurückgelegt hat. Wobei man bei seinen „Fließenden Welten“ als Ausgangspunkt an Crankos „Brouillards“ denken mag. Welch ein Prozess der kontinuierlichen Purifizierung seiner tänzerischen Lyrik, deren letzte Hamburger Stationen seine Ballette zu Musik von Bernstein, Britten und Schubert/Zender waren. Und hier nun die essentielle Verdichtung seiner poetischen Imaginationen. Ein Ballettabend wie ein kostbares japanisches Parfüm. Müsste ich ihm einen Namen geben, würde ich für Kenzo plädieren.

In gewisser Weise mag man die choreografischen Bilder, die Neumeier hier mit feinem Pinselstrich skizziert – und zwar nicht nur in „Seven Haiku of the Moon“, sondern auch im zweiten mit der Stationenfolge der Lebensjahreszeiten – als seine eigene Form eines choreografischen Haiku bezeichnen – äußerst verknappte Statements seiner Art von getanzter Poesie. Sie stehen in der Tradition so eminenter Vorgänger wie Antony Tudor („Lilac Garden“), Frederick Ashton („Illuminations“) und Jerome Robbins („Age of Anxiety“). Wobei sie freilich nur eine Seitenlinie seines höchst komplex verwobenen Oeuvres verkörpern (der monumentale Shakespeare-Corpus, die geistlichen Erkundungen um die „Matthäus-Passion“, die Auseinandersetzungen mit der Sinfonik Gustav Mahlers – und dazu noch der Vorstoß in die Grenzgebiete des Musicals).

Die beiden Teile dieses Abends erhielten ihren besonderen Akzent durch die Mitwirkung von Tänzern der japanischen Originalproduktionen, die schon beim Gastspiel des Tokyo Ballet des Vorabends dabei waren, Kazuo Kimura als Der Mond sowie Yuhari Saito und Naoki Takagishi unter den Betrachtern des Mondes. Die „Seasons“ hingegen verblieben in der Kompetenz der Hamburger Tänzer – mit Lloyd Riggins als Wanderer durch die Jahreszeiten des Lebens, den Reflektionen seiner jüngeren Jahre in der Gestalt von Dario Franconi, Thomas Stuhrmann und Alexandr Trusch, Anna Polikarpova als die Frauen, die ihn auf seiner Lebensreise begleitet haben und Carsten Jung als Memento mori. Vergegenwärtigt man sich, wie viel von diesen „Seasons“ in Neumeiers spätere Hamburger „Winterreise“ von 2001 eingegangen ist, so bedauerte man, dass er für diesen japanischen Abend nicht den in Hamburg unvergessenen Yukichi Hattori als Gast eingeladen hat, der der Aufführung gerade als Schlusstrommler noch einen besonderen japanischen Akzent hätte beisteuern können.

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