Reflektionen zu Diaghilew

„In the Spirit of Diaghilev“ mit McGregor – Maliphant – Cherkaoui bei Movimentos

Wolfsburg, 25/05/2010

Drei Choreografien „In the Spirit of Diaghilev“, des berühmten Impresario der Ballets Russes, drei Sichtweisen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: eine Produktion des Sadler’s Wells Theatre aus London zum 100-jährigen Jubiläum der „Ballets Russes“, Uraufführung Oktober 2009. Jetzt präsentiert beim Festival Movimentos im Wolfsburger Kraftwerk.

Das herausragende „Afterlight (Part one)“ von Russell Maliphant konzentriert sich auf Vaslav Nijinsky, verfolgt in einem mitreißenden Solo (Daniel Proietto) Aufstieg und Fall, vom Dunkel ins Licht und zurück, des Jahrhunderttänzers. Zu vier Gnossiennes von Eric Satie (gespielt von Dustin Gledhill), beginnend im dämmerigen Spotkreis entwickelt Maliphant vogelartige Bewegungen aus sehr lockeren Schultergelenken, schwirrenden Armen, Händen, verformbarem Rücken. Immer wieder setzen “Derwisch”-Drehungen auf flachem Fuß Akzente, schnell – langsam – dynamisch – fließend aus dem Bewegungsablauf heraus. Rote Jacke und helle Kappe legt Proietto bald ab und tanzt mit nacktem Oberkörper weiter, nur noch pure Bewegung, strukturiert durch dynamische Abstufungen, etwa von der schnellen Fortbewegung, etwa einer Bodenrolle, zur Pose mit einem plötzlich verlangsamten Ausgreifen der Arme und Hände. Eine Folge von Linksdrehungen en manège markieren einen Höhepunkt. Immer im Rahmen der Lichtfläche, die sich zusammenzieht und ausdehnt. Die Projektionen am Boden sind mehr flüchtige grafische Formen als konkrete Ansichten der Zeichnungen Nijinskys, wie im Programmheft beschrieben.

Sehnsucht zu fliegen, abzuheben scheint den Menschen anzutreiben. Wie Ikarus stürzt er jedoch aus der Höhe ab, fällt zurück auf die Startposition, letztlich dem Boden verhaftet, entkommt bis auf wenige Augenblicke im hellen Schein nicht den Fesseln der körperlichen und psychischen Schwerkraft. Die aufrechten Drehungen wandeln sich zu gebeugten Drehungen. Mit fast unglaublicher Kondition und Konzentration spannt Daniel Proietto einen ununterbrochenen Bogen über die 15-minütige Dauer des Stücks. Eine Beifallsexplosion feiert ihn, der fast schüchtern den Applaus entgegen nimmt.

Im „Faun“ nimmt Sidi Larbi Cherkaoui inhaltlich Motive aus dem Original „L’après-midi d’un faune“ von Nijinsky auf, verwandelt aber die Konfrontation Faun-Nymphen in eine gegenseitige Werbung, reduziert die Personen auf das Duo Faun-Nymphe (James O’Hara, Daisy Phillips). Die Musik Claude Debussys wird durchsetzt von Einschüben moderner Klänge (Nitin Sawney), erstmals beim Auftauchen der Nymphe. Die Projektion auf der Rückwand lässt aus nebligen Konturen allmählich einen mächtigen Wald erstehen, der Boden scheint wie mit Laub bestreut. Wie ein Jugendlicher mit Drang zum Weiblichen gebärdet sich der Faun, als die Nymphe auftaucht. Daisy Philips, neckisches Röckchen mit engem Oberteil, ist keine der überschlanken, um das Wort dürren zu vermeiden Ballerinen, sondern eine gestandene Frauensperson mit dementsprechenden Formen und erotischer Ausstrahlung. Und einer staunenswerten Flexibilität, die nie aus der tänzerischen Linie bricht. Manchmal hat der Zuschauer dennoch wohl Probleme die Glieder zuzuordnen: Wo sind die Beine, die Arme, ach ja, da ist der Kopf in einem unmöglichen Winkel zum Körper „abgelegt“. O’Hara verleiht dem Faun eine Mischung aus pubertärer Unsicherheit mit Triebstau und dem Erwachen zu selbstbewusstem Handeln. Die beiden fusseln auf neue Art miteinander: Sohlen aneinander gelegt, werden die Beine hoch im Bogen geführt, dann scheinbar unentwirrbar verwickelt. Der sexuell aufgeladenen Pas de deux, zu dem sie den entscheidenden Anstoß gibt, gleitet auf der Woge der sinnlichen Klänge Debussys bis zur Kopulation im gegenseitigen Einverständnis. Danach trollt sich der Faun befriedigt, will von der Nymphe nichts mehr wissen. Cherkaoui hat dem Faun-Thema eine amüsante 16-minütge Variante abgewonnen.

Weniger Worte bedarf es bei „Dyad“ (Gespann). In dem 28-minütigen Stück will Wayne McGregor den Polarforscher Ernest Shackleton und Impresario Sergej Diaghilew im Jahr 1909 als bahnbrechende Neuerer in Forschung und Kunst thematisieren. Zu Anfang zeigt er links einen in Pelze gemummelten Mann, rechts zwei normal gekleidete Personen. Der Polarforscher fällt um und stirbt offenbar. Dann wieseln Gestalten mit ausgeprägtem Hohlrücken und überdehnten Armen einzeln, zu zweit, in Gruppe über die Bühnenfläche. Dazu laufen auf drei geometrischen Gebilden – eines bedrohlich auf halber Höhe eingehängt - Projektionen ab, deren Bezug zum Geschehen mir nicht verständlich wird. Eben so wenig wie die geschwätzige, ziellos dahin trudelnde Choreografie: ein Ärgernis.
 

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