Eros und Jahwe, „Serenade“ und „Kaddish“, Liebe und Gebet

Das Ballett Chemnitz eröffnet mit einem fulminantem Bernstein-Tanzabend die Tage der jüdischen Kultur in Chemnitz

Chemnitz, 22/02/2010

Das Chemnitzer Opernhaus, ein Prachtbau bürgerlichen Selbstbewusstseins, ist 100 Jahre alt. Die jüdische Gemeinde der Stadt wurde 25 Jahre vorher gegründet, hatte bald 3000 Mitglieder, von denen beträchtliche Summen in das Spendenaufkommen für den Theaterbau flossen. Ohne weltoffenes jüdisches Sammler- und Mäzenatentum ist der Aufschwung des sächsischen Zentrums der industriellen Moderne nicht denkbar, die Schätze der Städtischen Sammlungen zeugen trotz schmerzlicher Verluste bis heute davon. In der Erinnerung an das Schicksal der Chemnitzer Juden in den Jahren 1933 bis 1945 sprach die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig zur Eröffnung der 19. Jüdischen Kulturtage, unmittelbar vor der Ballettpremiere, von „Chemnitzer Verlusten“, für die es „keine Maßeinheit“ gebe. Jüdisches Leben und jüdische Kultur drohten in Chemnitz danach gänzlich zu erlöschen, zwölf Mitglieder zählte die Gemeinde 1998. Dass die Gemeinde heute wieder 650 Mitglieder zählt, Maßstäbe setzt im Bereich der Einwanderung und Integration, zählt die Bürgermeisterin zu den hoffnungsvollen Zeichen ihrer Stadt, die solcher alltäglichen Offenheit bedarf.

Zu Beginn ihrer Rede bezeichnete sie das Opernhaus als Ort des Genusses, in dem es uns vergönnt ist vom Himmel in die Hölle zu reisen, durch Krieg und Frieden, vom Leben zum Tod und zurück. Wie Recht sie haben sollte, konnten die Premierenbesucher sofort erfahren, denn allein die Zusammenstellung der beiden Stücke von Leonhard Bernstein bringt scheinbare Gegensätze in einen ausgesprochen spannenden Zusammenklang, und der verdankt sich der so sinnlichen, dabei wissend grundierten Choreografie von Lode Devos.

Es geht um unser kurzes Leben. Es geht um die Kraft, die nicht versiegt, die uns dennoch umwirft und im gleichen Augenblick wieder aufrichten kann, die uns einsam macht, und uns gleichfalls in den ungezügelten Übermut anonymer Massenverzückung führen kann. Für den griechischen Philosophen Platon, 427 – 347 v. Chr., ist es Eros, der in ältesten Schichten antiker Mythologie aus dem Chaos erscheint, dessen göttliche Kraft alle Facetten des Menschseins durchzieht. Ein Mittler zwischen Sterblichem und Unsterblichem, der Menschen in die schöpferische Unerschrockenheit führt. Platons „Gastmahl“ ist ein sinnlicher Dialog über den Eros als Triebkraft der Liebe, ihrem Zauber und ihrer dämonischen Kräfte. Leonhard Bernsteins „Serenade“ von 1954, für Solovioline, Harfe und Schlagzeug, folgt Ideen dieses Werkes. Den fünf Sätzen in Form eines Konzertes sind Reden und Dialoge aus Platons Werk zugeordnet. Musikalisch gestaltet sich die ausgesprochen tänzerische Komposition als verführerisches Angebot zur freien Assoziation, als Antrieb zur Reise in das Universum grenzenloser Fantasie. Das Stück wird in einer Aufnahme mit Anne-Sophie Mutter eingespielt.

Frei und assoziativ gestaltet sich dazu die suggestive Choreografie von Lode Devos im leicht futuristisch anmutenden, aber eher völlige Zeitlosigkeit andeutenden Ambiente des Bühnenbildners „Katxua“, José A. Peljero Pastor, auf zwei gegenläufigen Ebenen.

Da ist mit den Formen eines harmonisch verschmolzenen aber auch einander widersprechenden Tanzes von Anne-Frédérique Hoingne und Christian Bauch eine so überzeugende wie beunruhigende Erosgestalt entstanden, fernab von jedem Klischee wohlfeiler Anzüglichkeiten. So wie Bernsteins Musik keinerlei nacherzählende Ansprüche hat, gestalten in den freien Formen des Tanzes vier Paare Situationen des Suchens und Findens, Anziehung und Abstoßung. In verschiedenen Zuordnungen begegnen Menschen vielgestaltigen Erscheinungen des Eros, sie verändern und tauschen ihr Repertoire der Bewegungen, das reicht von träumerischer Zärtlichkeit bis in die kantige Kraft widersprechender Aggressionen. Vom Können der aufstrebend schmiegsamen, dabei doch immer kraftvoll grundierten Anne-Frédérique Hoingne konnten wir uns schon mehrfach überzeugen. Mit dem jungen Christan Bauch betritt ein Tänzer die Chemnitzer Bühne, dessen sensible knabenhafte Männlichkeit, bereits mit Anklängen charakterlicher Grundierung, für sich einnimmt.

Im zweiten Teil, mit Leonhard Bernsteins 3. Sinfonie „Kaddish“ von 1963, in der revidierten Fassung von 1977, nähert sich das Chemnitzer Ballett zu einer Einspielung unter der Leitung des Komponisten auf völlig andere Weise der Frage nach der Essenz des Lebens, getragen von einem Werk für Sopran, Sprecher, Chor, Knabenchor und Orchester, das schon wegen der verwendeten Texte von ganz anderer Gegenständlichkeit geprägt ist. „Kaddish“ folgt einem der vornehmsten jüdischen Gebete, dem Totengebet, eine Heiligung des Namens Gottes, dem das christliche Vater Unser verwandt ist. In den drei Teilen seiner Kaddisch-Sinfonie durchbricht Bernstein den Text des Gebetes mit eigenen Texten eines Sprechers, der in der Tradition jüdischer, streitbarer Frömmigkeit, wie Hiob mit seinem Gott ins Gericht geht. Grund der Anklage ist die Erfahrung der Geschichte, der Mensch als zerschmettertes, verbanntes und verbranntes Spiegelbild seines Schöpfers. Die Musik führt durch höllenhafte Passagen in beklemmender Atonalität, wechselt rasch zu traumwandlerischer Harmonie, um in einer verschmelzenden Vision auszuklingen, in der Gott und Mensch gemeinsam träumen, einander trösten und erschaffen.

In der Choreografie von Lode Devos steht der Tänzer Armin Frauenschuh, „Der Mensch“, als Bild für den Sprecher auf einer Anhäufung massiver Ruinenquader neben einem uralten, noch immer grünenden Olivenbaum, zwischen Himmel und Erde. Wenn sich diese Steine, und man muss ja an die Klagemauer in Jerusalem denken, um einen Spalt öffnen, wird auch „Der Mensch“ herabsteigen zu den Menschen, „Das Volk“, dessen vielgestaltiger, expressiver Tanz von zwölf Paaren die Emotionen des Werkes in weitere Dimensionen transponiert. Immer wieder lösen sich Einzelne aus der Gruppe, finden Paare zusammen, aber es bleibt insgesamt bei der unausweichlichen Bildkraft des Unerklärlichen, des nicht Benennbaren, das sich in seiner Unbedingtheit der Intensität des Tanzes verdankt. Devos lässt die bestens aufgelegte Chemnitzer Company in einem atemberaubenden Kraftakt auffahren und abstürzen, er lässt sie in der Gleichheit einer fast militarisierten Masse, was auch die Kostüme von Christiane Devos assoziieren, aufgehen, um dann auch wieder ausgesprochen stark die so unterschiedlichen Persönlichkeiten der Tänzerinnen und Tänzer hervortreten zu lassen.

Dass Gott Eros und seine bewegenden Kräfte voll auf dem Plan sind um uns mit einer auf- und anregenden Interpretation eines jüdischen Gebetes zu bewegen, auf eine Reise durch das Labyrinth der Empfindungen zu schicken, sinnlich zu erfreuen, tief zu erschüttern und endlich in errungenem Glücksgefühl zu entlassen, dürfte wohl nicht zuletzt im Sinne Leonhard Bernsteins sein.

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