Zwischen den Zeiten

Anlässlich der Lektüre der Kritikerumfrage im Jahrbuch 2009 von „ballettanz“

oe
Stuttgart, 26/08/2009

Gestehe ich’s nur ruhig ein – es ist jedes Jahr wieder dasselbe: Zuerst kommt die Kritikerumfrage: wie viel Personen umfasst diesmal die Adelsliste der internationalen Kritiker-Zunft? Wer ist drin, wem ist die Zugehörigkeit aberkannt worden? Dreißig sind’s diesmal, die der Ehre teilhaftig geworden sind (im vorigen Jahr waren es noch vierzig – besonders schmerzlich vermisst der hoch geschätzte Kollege Jochen Schmidt). Außerhalb Deutschlands darf’s immer nur eine oder einer pro Land sein. Und das ist dann meist der oder die eine, die die regulären Korrespondenten von ballettanz sind. Das ist schade. Denn es schließt ein paar aus dem internationalen Hochadel aus – Clement Crisp beispielsweise von der Financial Times, Alastair Macaulay von der New York Times und Igor Stupnikov aus St. Petersburg.

Manche verweigern sich auch dem Kritiker-Ringelspiel. Bei dem einen fragt man sich, warum denn der – und die nicht? Die Auswahl wird offensichtlich von der Redaktion getroffen, und da wundert man sich denn doch, warum unter den vielen offenbar kein Platz für Volkmar Draeger ist, diesem so treuherzig Premiere um Premiere in der ehemaligen DDR absolvierenden Kollegen – dem einzigen, der sich dieser Mühe unterzieht, und das heißt eben, dass diese Kompanien, außerhalb der Big Three von Berlin, Leipzig und Dresden, kaum eine Chance haben, jemals in dieser Umfrage genannt zu werden. Ansonsten träfe jeder natürlich seine eigene Auswahl (vielleicht ist es ja ganz gut, dass ich da nicht mitzubestimmen habe, denn meine Liste sähe natürlich, wie man sich vorstellen kann, gänzlich anders aus).

Gefreut habe ich mich – was die Leser des kj nicht wundern wird –, dass der Hauptteil des Jahrgangs 2009 der Klassik gewidmet ist. Da bin ich gespannt auf die einzelnen Beiträge, zu denen ich bisher noch nicht gekommen bin, da ich, wie gesagt, mich zuerst der Kritikerumfrage gewidmet habe. Und da war ich doch einigermaßen erstaunt, dass die Wahl des/der Choreograf/in diesmal auf Wayne McGregor gefallen ist. Es stimmt schon, dass der vier Nominierungen erhalten hat – von Kollegen, die ihn offenbar in London gesehen haben – die sechsundzwanzig anderen können da nicht mithalten, so oft sie auch in anderem Zusammenhang Martin Schläpfer, Lin Hwai-min oder Sidi Larbi Cherkaoui erwähnen. Hübsche Pointe übrigens: dass Stuttgart, das nur am Rand in der Kritikerumfrage auftaucht – als einzige deutsche Kompanie einen McGregor für die Juli-Premiere 2010 ankündigt. Immerhin hat McGregor seine Visitenkarte als Choreograf in Deutschland zuerst beim Stuttgarter Ballett („Nautilus“ und dann noch einmal „Eden / Eden“) abgegeben – bevor er zum Resident Choreographer des Royal Ballet avancierte.

Als Entdecker von choreografischen Nachwuchstalenten lässt sich Reid Anderson den Schneid von niemand abschneiden. Dass München endlich selbst entdeckt hat, was für eine fabulöse Kompanie es im nunmehr zwanzigjährigen Bayerischen Staatsballett samt seiner Direktoren-Troika hat, kündigt eine kaum mehr erwartete lokale Klimaänderung an – mit exaktem Timing zum Klassik-Jahr 2009. Nicht so überraschend das glänzende Zeugnis, das John Neumeier für sein Lebenswerk in Hamburg ausgestellt wird. Und damit wir schön auf der Erde mit unseren Kritikerurteilen und -meinungen bleiben, dass des einen Hosianna des anderen Bannfluch des Kreuziget-ihn ist, hier noch die Gegenüberstellung der Pariser Einschätzung von Angelin Preljocaj, „dem Kerl aus Aix-en-Provence“, „Blanche neige“ als „Aufführung des Jahres“ mit der Berliner Warnung vor der Ansteckungsgefahr von „Angelin Preljocajs (schlechtem) Geschmack“ – weshalb es aufzupassen gilt, „uns nicht billig abspeisen zu lassen“ – vielleicht mittels Impfung wie bei der „Schweinegrippe“?

Hübsch auch der Beweis, dass das Feinbesteck der Ironie noch nicht ganz abhandengekommen ist, wenn die Zuerkennung des Titels „Kompanie oder Kollektiv des Jahres“ an „Das Aalto Ballett Essen“ geht, „weil es souverän und würdevoll die Musical-Begeisterung seines neuen Ballettchefs Ben van Cauwenbergh erträgt.“ Und zum Schluss noch das zur Gewohnheit gewordene Lamento, wie sehr doch die in der Vergangenheit so mustergültig von Hartmut Regitz betreute Dokumentation der einzelnen Kompanien rund um den Erdball vermisst wird. Ganz zu schweigen von dem unerklärlichen Verzicht auf ein Jahres-Inhaltsverzeichnis – vielleicht sollte die Redaktion bei den Kollegen von der Opernwelt um Entwicklungshilfe bitten. www.ballet-tanz.de

 

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