Darf's ein Kilo mehr sein?

Neues vom Büchermarkt aus der Schwergewichtsklasse der Klitschko-Brüder

oe
Stuttgart, 30/07/2009

Müssen wir uns angewöhnen, in Zukunft Bücher über den Tanz nach Gewichtsklassen zu bewerten? Dann wäre John Neumeiers „In Bewegung“ mit seinen 3620 Gramm sicher unangefochtener Weltmeister im Schwergewicht (das nötigt mich zur Feststellung, dass über ein Jahr nach seinem Erscheinen bisher noch keine seinem Anspruch und seiner Bedeutung angemessene kritische Würdigung in einem unserer Magazine erschienen ist – oder sollte sie mir entgangen sein? Ich bin allen Ernstes der Meinung, dass seit Noverres „Briefen über den Tanz“ in der ganzen Ballettgeschichte kein einziges vergleichbares Buch publiziert worden ist – wie ich auch mit Erstaunen registriere, dass ich nirgends in unseren Fachzeitschriften eine gründliche Auseinandersetzung über die Hamburger Ausstellung „Tanz der Farben“ und deren kunstwissenschaftliche Aufarbeitung im Katalog gelesen habe).

Wenn ich mir vorstelle, wie etwa England oder Amerika auf die Hamburger Gewaltanstrengung in Sachen 100 Jahre Ballets Russes reagiert hätten und das magere publizistische Echo hierzulande dagegen halte, muss ich mir einmal mehr eingestehen, wie sehr wir doch der Aktualität hinterher hinken – in der Tat habe ich eine detaillierte Beschreibung der Münchner Ausstellung „Die Ballets Russes 1909-1929“ und ihres Katalogs nicht etwa in einem unserer Magazine gelesen, sondern in der amerikanischen Ballet Review von der italienischen Autorin Patrizia Veroli („Diaghilev‘s Enterprise“, Ballet Review, Sunmer 2009).

Gemessen an Neumeiers über sieben Pfund, rangiert Robert Gottliebs „Reading Dance“ allenfalls unter den Halbschwergewichten. Immerhin: es bringt 1775 Gramm auf die Waage, und ist damit keineswegs zur Bettlektüre geeignet. Es handelt sich um eine amerikanische Publikation – für ein amerikanisches Publikum, 1330 Seiten stark, erschienen bei Pantheon Books in den USA, annonciert als „A Gathering of Memoirs, Reportage, Criticism, Profiles, Interviews and Some Uncategorizable Extras“ – eine Anthologie also, nach der Introduction des Herausgebers alphabetisch geordnet zwischen Ashton und Astaire und Twyla Tharp, mit jeweils mehreren Beiträgen verschiedener Autoren, die zu zählen mir jedes Mal missglückt ist.

Es sind hauptsächlich amerikanische Autoren und ein paar Europäer (Ashton, Bournonville, Haskell, Buckle, Clarke, Lambert, Macaulay, Crisp, Rambert, Kavanagh und Baryshnikov). Ein Buch zum Schmökern also, keineswegs um Kapitel nach Kapitel hintereinander abzuarbeiten. Es gibt leider kein Register, darum wage ich nicht zu behaupten: nichts über die Niederländer, nichts über Duato oder Oharin, über Cranko, MacMillan, Forsythe oder über Neumeier, geschweige denn Pina Bausch gelesen zu haben – vielleicht taucht der/die eine oder andere ja in irgendeinem anderen Zusammenhang auf. Auch kann ich nicht behaupten, auch nur annähernd alles gelesen zu haben. Festgelesen habe ich mich gerade an einem sehr langen, glänzenden Interview Merce Cunninghams, das zahlreiche Details bietet, die ich in keinem der vielen Nachrufe erwähnt gefunden habe.

Sicher einer der mörderischsten Beiträge stammt von Nancy Goldner und befasst sich mit Maurice Béjart. Immerhin haben Mary Wigman und Hanya Holm eigene Kapitel – dafür fehlt Kurt Jooss ebenso wie Rolf de Maré. Ganz übergangen ist auch die Geschichte des Sowjetballetts. Umfangreicher gewürdigt werden unter anderen Cunningham, Diaghilew, Duncan, Farrell, Fonteyn, Graham, Massine, Movies, Nijinsky, Nurejew, Pawlowa, Robbins, „The Sleeping Beauty“ und Paul Taylor. Lustig finde ich unter den Extras ein Kapitel über „Pavlova Goes Shopping“ und ein Rezept aus Tanaquil LeClerqs „Ballet Cook Book“ (darunter eins für „Meerrettich Eiscreme“ – vielleicht ja zum Lachs geeignet). Wie gesagt: ein Wälzer, der so ziemlich für jeden Geschmack etwas bietet.

Von den deutschen Büchern kommt ihnen der oder das (ich kann mich da nie entscheiden) „Annual Stuttgarter Ballett“ noch am nächsten – aber den/das habe ich nicht gewogen (Fliegengewicht – oder Bantamgewicht?). Es ist jedenfalls bedeutend dicker und schwerer als die vorausgegangenen Bände – nicht zuletzt wohl des Kunstdruckpapiers wegen. Es ist auch bedeutend teurer geworden als die früheren Ausgaben und kostet jetzt 39 Euro (die zahlreichen Farbaufnahmen!). Nicht recht einzusehen ist, warum der Doppelband 30 & 31 so spät erschienen ist – erst im Juli 2009 (also fast am Ende der Spielzeit 2008/09), nachdem es früher doch immer ein wohlfeiles Weihnachtsgeschenk war. Hat es an mangelnder Abstimmung der Produktionstermine zwischen Stuttgarter Ballettdirektion und der John-Cranko-Gesellschaft gelegen? Es bietet, wie üblich, Interviews, Porträts und ein paar übergreifende Artikel sowie – natürlich – die Bilanzen (sowohl in deutscher wie in englischer Sprache).

Insgesamt kann man wohl sagen, dass es opulenter ausgefallen ist als seine Vorgänger – aber um welchen Preis! Etwas bescheidener gibt sich das Jahrbuch der 35. Hamburger Ballett-Tage – pünktlich zum Abschluss der Spielzeit 2008/09 erschienen und ganz auf ihr diesjähriges Thema „Hommage aux Ballets Russes“ zugeschnitten. Ein Hamburger Produkt ist auch der schon erwähnte Katalog zur Ausstellung „Tanz der Farben – Nijinskys Auge und die Abstraktion“ – ohne Verlagsangabe, herausgegeben von der Hamburger Kunsthalle und dank der fabelhaften Abbildungen und tiefschürfenden kunstwissenschaftlichen Analysen zweifellos schon bald zu den kostbarsten ballettbibliografischen Raritäten gehörend – überdies der Nijinsky-Biografie eine ganz neue Perspektive erschließend.

Stattlich auch der Band „Mundart der Wiener Moderne – Der Tanz der Grete Wiesenthal“, herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Gunhild Oberzaucher-Schüller, erschienen bei K. Kieser in München, der sich ja in relativ kurzer Zeit als DER deutsche Verlag für Tanzbücher (noch vor Henschel in Frankfurt und Berlin) durchgesetzt hat. Diesmal wieder mit einer Veröffentlichung in der Reihe der Publikationen des Fachbereichs Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg und der Derra de Moroda Dance Archives unter der Leitung von Oberzaucher-Schüller und mit Unterstützung des Zentrums für Bewegungsforschung (Leitung: Gabriele Brandstetter) am Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, sowie des Bundesinnenministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien und der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg (324 Seiten, zahlreiche schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 978-3-935456-23-4, 28 Euro).

Ich muss gestehen, die umfangreiche Liste der Credits nicht ohne einen gewissen Neid gelesen zu haben, wenn ich bedenke, wie viele derartige Veröffentlichungen wir inzwischen dieser Salzburger Initiative verdanken – und wie wenig wir ihr aus Berliner Perspektive (trotz drei promovierter Tanzwissenschaftler in führenden Berliner Positionen) entgegenzusetzen haben (abermals anzumahnen: eine detaillierte Chronik des Tanzes in West- und Ostberlin nach 1945 – und liebend gern sähe ich auch eine Veröffentlichung über den modernen Tanz in der Umgebung von Wigman und Palucca im Umkreis der Dresdner Brücke – und dabei gibt es doch in Dresden einen energisch engagierten Tanz-Lobbyisten). Wie dem auch sei: der neue Band über Grete Wiesenthal enthält eine Fülle von Beiträgen der verschiedensten Autoren über die „Integrationsfigur“, die „die neue Einschätzung ... im künstlerischen Gefüge der Wiener Moderne … dem Tanz neben der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik eine gleichberechtigte Stellung zuerkannt(e).“ Unter ihnen die Koryphäen der Wiener Balletthistorie: Oberzaucher-Schüller, Andrea Amort und Alfred Oberzaucher. Fehlen nur Ricky Raab und Sibylle Dahms! Also wenn ich allmächtig wäre, würde ich Gunhild Oberzaucher-Schüller für ein Jahr nach Berlin zwangsverpflichten, um dort die Aufarbeitung der Berliner Ballettgeschichte zu initiieren!

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