Und wieder einer weniger

Zum Tod von Merce Cunningham

oe
Stuttgart, 28/07/2009

Nun also auch Merce Cunningham, den alle (Tanz-)Welt nur Merce nannte. Ich fürchte, das wird ein sehr persönliches kj werden – eine Art Geschichtsstunde des Tanzes während eines halben Jahrhunderts. Die Nachricht seines Todes, auf die ich um Mitternacht im Internet gestoßen bin, hat meine Gedanken zurück katapultiert – so lange, bis ich gar nicht mehr wusste, in welches Jahr genau. Dann entsann ich mich: es war das Jahr nach dem Kennedy-Mord, ein Schicksalsdatum, ähnlich dem späteren 11. September 2001. Ich hatte eine Einladung zu meinem ersten Amerika-Aufenthalt erhalten – ein mehrmonatiges, von den Amerikanern finanziertes Stipendium. Und das stand nach dem Mord vom 22. November 1963 auf der Kippe. Es klappte dann aber doch noch. Am 3. Januar 1964 flog ich nach New York und sah am Abend, noch im City Center, das New York City Ballet mit „Orpheus“ (Magallanes, Moncion, Tallchief), dann „Meditation“ (Farrell, d‘Amboise), „Four Temperaments“ (Rapp, Wilde, Blum und Bolender), und „Valse nobles et sentimentales“ plus „La Valse“ (Magallanes, MacBride, Moncion).

Bereits am 6. Januar (also 1964) vermerkt mein Notizbuch: 18.00 Uhr Besuch bei Edwin Denby. Das war also der berühmte Kritiker Denby, der noch mit Claire Eckstein bei Rabenalt in Darmstadt zusammen getanzt hatte, und der seit Mitte der dreißiger Jahre zum einflussreichsten amerikanischen Tanzkritiker (und Wegbereiter Balanchines) geworden war. Keine Ahnung, wie ich an ihn geraten war. Auf jeden Fall besuchte ich ihn zwei Tage nach meiner Ankunft in seiner Bruchbude in Greenwich Village – und bin dort Merce begegnet, rein zufällig (wie bei einem meiner nächsten Besuche dem gerade 23-jährigen Bob Wilson) – wiederbegegnet, denn wir kannten einander schon seit seinem ersten Gastspiel 1960 in Köln. Am nächsten Tage war ich bei Merce in der Schule in Westbeth. Wie dann mehrfach – und sowieso bei den wöchentlichen Veranstaltungen in der Judson Church und bei den verschiedenen Europa-Tourneen seiner Kompanie, zuerst in Köln (mit Party hinterher bei oe im Hochhaus am Wiener Platz in Mülheim – das waren noch Zeiten, einmal brachte er sogar Andy Warhol mit, der der Bühnenbildner seines mit Helium-gefüllten Kissen bestückten „Rainforest“ war) – und dann immer und immer wieder, einschließlich der Uraufführung der zusammen von John Cage und Merce konzipierten „Europeras“ 1987 in Frankfurt.

Ein weiteres Verbindungsglied zu Cage und Merce war Pia Gilbert, die noch heute hochbetagt in Manhattan lebt, Universitätsprofessorin für Komposition in Los Angeles in den sechziger Jahren und später dann an der New Yorker Juilliard School, eine deutsche Jüdin, die gerade noch den Nazis entkommen war und in Pacific Palisades mit den Emigranten um Schönberg, den Manns, Krenek und Feuchtwanger lebte, und die ich noch in den neunziger Jahren regelmäßig in New York traf, wobei dann unvermeidlich die Rede auf Merce kam. Ja, das war ein tolles Jahr 1964 in New York – in dem das New York City Ballet vom City Center ins New York State Theatre umzog! Diese Vorstellungen, die in meinem Notizbuch vermerkt sind – auch bei Alwin Nikolais, den Musicals am Broadway, inclusive „Cabaret“ mit Lotte Lenya, die ich noch von den fünfziger Jahren in Berlin und Hamburg (Schallplattenaufnahmen der „Dreigroschenoper“) her kannte (wo mich die Zeitschrift „Der Monat“ als Dolmetscher für ihren amerikanischen Mann George Davis engagiert hatte – Englisch war das einzig Vernünftige, was ich während meiner Nazi-Schuljahre gelernt hatte) – und dieser George Davis wiederum hatte als literarischer Editor der Zeitschrift „Mademoiselle“ Truman Capote (und Carson McCullers) entdeckt, den er mir dann in Berlin vor der russischen „Porgy and Bess“-Tour zuführte – und später Wystan H. Auden und Christopher Isherwood.

Und so wurde ich in New York weitergereicht, von Denby zu Merce und zu Bob Wilson, zu Lotte Lenya und Lys Symonette (die die Probenpianistin für Kurt Weill am Broadway war), zu Pia Gilbert und Martha Graham (natürlich) und José Limon, zu der unvergesslichen Ruth Page (der ersten Terpsichore noch vor Balanchines „Apollon musagète“ in der Washingtoner Kongressbibliothek), mit der ich dann später bei einem ihrer Besuche in Köln während des Karneval, vollkommen besoffen, den originalen „Apollo“-Pas-de-deux in der Choreografie von Adolf Bolm ‚getanzt‘ und später bei ihr in Chicago gewohnt habe, sie war mit einem Rechtsanwalt verheiratet, der Al Capone verteidigt hatte. Und mit der einzigartigen Selma Jeanne Cohen, der Herausgeberin der „Dance Perspectives“ (für die ich dann „In the Shadow of the Swastica“ über den Tanz in Nazi-Deutschland geschrieben habe), die mich wiederum mit George Dorris und seinem Freund George Jackson zusammenbrachte, den Kritikern der New York Times (neben Anna Kisselgoff), mit denen ich verschiedentlich, wenn ich während der achtziger Jahre regelmäßig zu meinen Weihnachtsbesuchen bei Lotte Goslar in Connecticut nach Amerika kam), den Weihnachtsbaum geschmückt habe.

Ja, so könnte ich noch eine Weile fortfahren – ist ja ein reines Name-Dropping geworden, ausgelöst durch den Tod von Merce und die Erinnerung an unsere Wiederbegegnung bei Edwin Denby in New York. Klingt für manchen sicher reichlich angeberisch: wem ich damals alles begegnet bin. Und dabei habe ich Balanchine (sehr freundlich – auch bei unseren späteren Treffen anlässlich seiner Fernsehaufnahmen in Berlin), Kirstein (sehr unfreundlich – für den war ich ein alter Nazi – wie denn auch nicht: Jahrgang 1927, wie Grass, Walser und Genscher – ganze Schulzeit unter den Nazis und auch noch Marinehelfer, Arbeitsdienst und Soldat) und Robbins (eher unfreundlich in Moskau, wo ich ihn für den „Fall Panow“ als Fürsprecher zu gewinnen versuchte, bei ihm aber auf eisige Ablehnung stieß) gar nicht genannt habe. Und dabei ist Merce nun sicher zu kurz gekommen – aber, wenn ich mir vorstelle, was da alles in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten an Nachrufen erscheinen wird, die alle seine Karriere und seine Verdienste minutiös aufschlüsseln werden, meine ich, nicht unbedingt auch noch meinen Senf dazugeben zu müssen. Aber einen Stoßseufzer kann ich mir nicht ersparen, wenn ich allein an meine guten amerikanischen Freunde und Bekannten zurückdenke: Lenya (tot 1981), Balanchine (1983), Graham (1991), Page (1991), Nikolais (1993 – wie der kochen konnte, noch besser als Balanchine!), Goslar (1997), Symonette (2005) und nun also auch Merce Cunningham, 27. Juli 2009. R.I.P.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern