„Heute machen alle, was wir einst initiiert haben“

Im 51. Jahr steht die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft zur Förderung junger Choreografen vor dem Aus - ein Gespräch mit Rainer Woihsyk

Stuttgart, 07/02/2009

Viele heute berühmte Choreografen wie Uwe Scholz, William Forsythe und Jiri Kylian präsentierten ihre ersten Stücke bei der von Fritz Höver gegründeten Noverre-Gesellschaft. Jetzt sieht Hövers Nachfolger Rainer Woihsyk keine Zukunft für die traditionsreiche Talente-Plattform.

Redaktion: Herr Woihsyk, hinter dem Tagesordnungspunkt Nummer 5 der Mitgliederjahresversammlung verbirgt sich Sprengstoff: Nicht mehr und nicht weniger als die „Auflösung der Gesellschaft“ steht zur Diskussion. Wie kann das sein, nachdem die Noverre-Gesellschaft 2008 erst ihr 50-Jahr- Jubiläum gefeiert hat?

Rainer Woihsyk: Lassen Sie es mich so sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass alle Dinge ihre Lebenszeit haben - nicht nur eine Pflanze oder ein Mensch, sondern auch ein Buch, ja selbst eine Noverre-Gesellschaft. Nach 50 Jahren, so mein Eindruck, ist der Punkt erreicht, an dem wir unsere Existenz neu überdenken müssen und entscheiden, ob wir noch zu Recht auf der Welt sind.

Redaktion: Ist das nur Ihr Eindruck?

Rainer Woihsyk: Es ist mein Eindruck. Aber seitdem die Einladung zur Jahresversammlung raus ist, erfahre ich viel Zustimmung, sobald ich meine Argumente vorgetragen habe - was mich zugleich erstaunt wie erfreut.

Redaktion: Wie viele Mitglieder hat denn die Noverre-Gesellschaft? Und wann ist sie beschlussfähig?

Rainer Woihsyk: 263, von denen in der Regel 60 bis 70 an der Mitgliederversammlung teilnehmen. Laut Satzung ist ein Beschluss gültig, wenn zwei Drittel der anwesenden Mitglieder ihm zustimmen. In der Satzung ist übrigens auch festgeschrieben, wie man mit dem vorhandenen Vermögen oder den Schulden umgeht. In unserem Falle geht das Vermögen in einen Topf für notleidende Künstler und da ausschließlich an Tänzer. In einem Poesiealbum habe ich einmal gelesen: „Es ist besser, ein Fest im Glanz der Lichter zu verlassen, als einen faden Abschluss zu erleben.“ Für die Noverre-Gesellschaft gilt: Die Produktionsbedingungen für Veranstaltungen wie die „Jungen Choreografen“ sind inzwischen derart schwierig geworden, dass mir jede Lust genommen wird, mich diesem Stress weiter auszusetzen.

Redaktion: Das heißt?

Rainer Woihsyk: Auf der letztjährigen Veranstaltung haben wir sieben Stücke präsentiert. In der gleichen Zeit lief in Stuttgart mit „Dornröschen“ eins der personenreichsten Stücke des Ballettrepertoires. Und mit dem „Hamlet“ von Kevin O“Day wurde bereits die erste Premiere der folgenden Spielzeit vorbereitet. Was zur Folge hatte, dass von den sieben Stücken gerade mal zwei mit Stuttgarter Tänzern besetzt werden. Und nur einer der Choreografen, Demis Volpi, entstammte dem Stuttgarter Ballett. Wir konnten dem Problem insofern mit einigermaßen offenem Visier entgegentreten, als das Jubiläum der Gesellschaft anstand und damit der Entschluss, ergänzend Gäste einzuladen, nur allzu gerechtfertigt war - darunter immerhin Künstler aus Chile, Brasilien, Ungarn und Deutschland. Dass das so immense Kosten verursachte, kann man sich leicht ausrechnen. Ich möchte einen derartigen finanziellen Kraftakt nicht noch einmal verantworten.

Redaktion: Aber das war es nicht allein?

Rainer Woihsyk: Nein. Bei unserem 25-Jährigen habe ich mit berechtigtem Stolz auf die vielen Choreografen verwiesen, die nicht zuletzt dank unserer Hilfe wegen ihren Weg gemacht haben - mich aber gleichzeitig gefragt, warum unser Erfolgsrezept nicht von anderen kopiert worden ist. Inzwischen ist das anders. Heute machen alle, was wir einst initiiert haben. Jede Kompanie hat mittlerweile ihre „Jungen Choreografen“ im Programm. Nichts anderes habe ich mir all die Jahre gewünscht. Die Kehrseite der Medaille: Es hat sich dadurch ein Junger-Choreografen-Tourismus entwickelt, dem ich mit einer gewissen Skepsis begegne.

Redaktion: Am liebsten wären Ihnen Debütanten aus den eigenen Reihen?

Rainer Woihsyk: Grundsätzlich ja. Dazu einen Gast einzuladen, wäre kein Problem - vor allem dann nicht, wenn der dann mit den Tänzern des Stuttgarter Balletts kooperiert und damit seine eigene Arbeitsweise als Erfahrungswert mit einbringt. In diesem Jahr veranstalten wir auf jeden Fall am 8. und 9. Juli noch einmal die „Jungen Choreografen“ - möglicherweise aber zum letzten Mal.

Redaktion: Wie hat Fritz Höver auf den Tagesordnungspunkt reagiert? Wäre sein Lebenswerk unter Umständen noch zu retten? Braucht es Sponsoren? Mehr Mitglieder? Ehrenamtlicher Mitarbeit?

Rainer Woihsyk: Er hat darauf, wie erwartet, mit gemischten Gefühlen reagiert. Ob die Gesellschaft noch zu retten ist? Ich glaube nicht, denn an den problematischen Produktionsbedingungen ändert sich ja nichts. Reid Anderson hat bei einem ersten Gespräch versichert, auf keinen Fall diese Idee aufzugeben, und will an den drei Tagen mit aller Entschiedenheit festhalten. Er muss allerdings jemanden finden, der diese Aufgabe übernimmt, und offenbar denkt er bereits darüber nach.

Redaktion: Aber ist es nicht die Unabhängigkeit, die letztlich die Erfolgsarbeit der Noverre-Gesellschaft erst ermöglicht hat?

Rainer Woihsyk: Unabhängigkeit ja, aber auch in der Kontinuität. Es hat uns nie ein Direktor in die Arbeit reingeredet, weder John Cranko noch Marcia Haydée, noch Reid Anderson.

Redaktion: Ziehen Sie im Juli auch Bilanz?

Rainer Woihsyk: Ich werde versuchen, ein entsprechendes Programmheft zu machen: eine Art Lebensbericht. Und wir werden, denke ich, die letzten Vorstellungen Hans Tränkle, der so viele unserer Probleme löste, und vor allem Fritz Höver widmen, ohne den es die Noverre-Gesellschaft niemals gegeben hätte.

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