Normal? Ideal? Doris Stelzer bricht mit gängigen Körperbildern

Premiere der K3-Residenzchoreografie „views in process“

Hamburg, 04/12/2008

Der typische Mann im Modekatalog ist sportlich, lässig und blickt kühl in die Kamera. Genau diese Pose nehmen die beiden Tänzer zu Beginn des Abends im K3 in Hamburg ein. Der Zuschauer nimmt an einer Art Fotoshooting teil, das mit einem Standbild der beiden „Models“ beginnt. Lässig gekleidet mit Jeans, Turnschuhen und Sweater posieren die beiden Männer nur wenige Meter vom Publikum entfernt vor einer imaginären Kamera. Schnell wird klar, warum diese Nähe notwendig ist. Die Choreografie von Doris Stelzer ist eine minimalistische Körperstudie, die genaues Hinsehen erfordert. Auch deshalb gibt es kein Bühnenbild, das ablenken könnte und kaum Geräusche, die eingespielt werden. Die Konzentration liegt allein auf den beiden Tänzern und ihren Körpern.

Endlose Minuten lang verharren sie in ihren Posen ohne Bewegung. Dann, kaum merklich verändert sich etwas. Der rechte Nasenflügel beginnt zu zucken, zuckt stärker, bläht sich bis zum Maximum auf. Das Spiel mit den einzelnen Gesichtspartien setzt sich fort. Augenbrauen, Stirn und Mundwinkel verziehen sich nacheinander. Langsam verwandeln sich die Durchschnittsmänner mit den Durchschnittsgesichtern zu seltsam fremden Fratzen.

Die dritte und letzte Residenzchoreografie des Jahres spielt ganz bewusst mit den Klischees von gesellschaftlich geprägten Körperbildern. Bekannte und vertraute Posen werden aufgelöst und demontiert. Doris Stelzer erreicht dies durch die Verbindung von Biotechnologie und Tanz. Beide Fächer hat die Choreografin studiert, beide Elemente lässt sie in ihre Arbeit einfließen. Sie nutzt dabei die spezielle Physiognomie der Tänzerkörper, um verschiedene Bewegungen bis an die Grenzen des Möglichen zu treiben. Dafür benötigt sie keine großen Bewegungen. Ganz im Gegenteil: nimmt sie die Körper in detaillierter Kleinstarbeit auseinander, isoliert bestimmte Körperpartien und untersucht deren Fähigkeiten. Das Ergebnis ist eine choreografierte Körperstudie.

So ziehen die beiden Tänzer beispielsweise ihren nackten Bauch ein, bis jede einzelne Sehne sichtbar hervortritt. Sie spannen die Muskeln an, bis das angestrebte Ideal eines jeden Mannes in Form eines „Sixpack“ erscheint. Sie strecken den Bauch aus bis er eine runde Kugel formt, um dann wieder in die entspannte Normalform zurückzukehren. Bin ich zu dünn? Bin ich zu dick? Bin ich normal? Bin ich ideal? Diese kleine Bewegungssequenz greift Fragen nach dem idealen Körper auf und übt leise Kritik an einer Gesellschaft, die durch die Medien ein gesellschaftliches Körperidealbild vorlebt.

Trotz der nur minimalen Bewegungsabläufe besitzt „views in process“ eine enorme Ausdruckskraft, was in großen Teilen den beiden Tänzern zu verdanken ist. Josep Caballero Garcia und Ondrej Vidlár haben eine so starke Bühnenpräsenz, dass die Spannung über die gesamten 50 Minuten aufrecht erhalten bleibt. Selbst wenn sie nur lässig auf ihren schwarzen Klappstühlen sitzen, ziehen die Männer alle Blicke auf sich. „views in process“ eröffnet eine neue Art des „Sehens“, die dem Zuschauer einiges abverlangt. In einer Welt, in der die Plasmabildschirme immer größer werden, die Bilder immer schneller laufen und die Bühnenshows immer bombastischer werden, sind wir kaum noch gewohnt die kleinen Dinge wahrzunehmen. Ein Augenblinzeln, ein kaum merkliches Verschieben der Hüfte.

Die Choreografie von Doris Stelzer fordert den Zuschauer immer wieder heraus genau hinzusehen, Details zu finden und zu beobachten. Zwar werden die Bewegungen im Laufe des Abends immer größer, bleiben im Verhältnis aber klein. Die Situation des Fotoshooting wird aufgelöst und die beiden Protagonisten versuchen sich nun in verschiedenen typischen Männerposen. In der Disco, beim Konzert, im Park, beim Fitnesstraining. Dass ihnen die Darstellung dieser Stereotypen außerordentlich gut gelingt, zeigt die amüsierte Reaktion des Publikums. Sofort erkennt man das Klischee vom Typen, der in der Disco aus Prinzip nie tanzt. Er wippt nur mit den Knien, nimmt dabei aber keinesfalls die Hände aus den Hosentaschen. Schön ist auch der Klischeetyp, der jede Gelegenheit nutzt um seine durchtrainierten Oberarmmuskeln in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Diese Posen sind ebenso lächerlich wie vertraut und genau damit spielt die Choreografie. Klischeehafte Körperbilder werden offengelegt und zerschlagen. Das gelingt im zweiten Teil leider nicht ganz so gut wie zu Beginn des Abends.

Ein Abend an dem wenig getanzt und dennoch viel bewegt wurde. „view in process“ verändert die Sehgewohnheiten in doppelter Hinsicht: Die Choreografie eröffnet einen sensibleren Blick auf die Details unserer Körper und eine neue Sicht auf die von uns verinnerlichten Körperbilder der Gesellschaft. Wenn man denn die Augen dafür öffnen will.

 

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