Verblasste Größe

Zum 20. Todestag von Aurel von Milloss

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Stuttgart, 21/09/2008

„Friedrichs Ballettlexikon von A-Z“ rühmt ihn 1972 noch als „eine der bedeutendsten Choreografenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, dessen geistige Anregungen und Denkanstöße oft über die künstlerische Wirkungskraft seiner Ballette hinausgehen.“ Die Rede ist von Aurel von Milloss, geboren am 12. Mai 1906 in Ozora, ungarisch-italienischer Tänzer, Choreograf und Ballettdirektor, der heute vor zwanzig Jahren in Rom starb. Als „eine der bedeutendsten Choreografenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts“ sieht ihn heute wohl nicht einmal die Verfasserin seiner Standard-Biografie mehr, Patricia Veroli, die nicht müde wurde, sich für ihn einzusetzen – nicht zuletzt in ihrem monumentalen „Milloss – Un maestro della coreografia tra espressionismo e classicità“, Lucca 1996). Trotzdem: an ihn zu erinnern, scheint mir umso mehr angebracht, da die beiden Städte, in denen er bei uns hauptsächlich tätig war und während seiner Aktivitäten für großes internationales Aufsehen sorgten, heutzutage nicht einmal mehr in der zweiten Liga mitspielen: Köln und Wien.

Milloss hat bei bedeutenden Lehrern studiert – außer Tanz bei Nicola Guerra, Viktor Gsovsky und Rudolf von Laban u. a. auch Philosophie und Geschichte an der Universität Budapest, und das hat ihn für sein Leben geprägt. Ich habe ihn 1959 kennengelernt, unmittelbar vor seiner Berufung als Ballettdirektor in Köln, als er mir auf meiner ersten großen Italienreise Florenz gezeigt und erklärt hat, und ich halte ihn für den gebildetsten Mann, der mir je im Ballett begegnet ist: ein Humanist im wahrsten Sinne des Wortes, in den Sprachen und der Kultur der Antike ebenso zu Hause wie in der Moderne, in engstem Kontakt mit den bedeutendsten Künstlern seiner Zeit, Malern,  vor allem aber Komponisten, inklusive Bartók, Petrassi und Dallapiccola.

Er hat als Tänzer bei Laban an der Berliner Staatsoper 1928 debütiert, sich dann aber frühzeitig selbständig gemacht und als Solotänzer, Choreograf und Ballettchef an zahlreichen Theatern in Deutschland und zunehmend in Italien gearbeitet – auch als Opernregisseur, als der er sogar im faschistischen Italien Schönberg und Bergs „Wozzeck“ auf die Bühne gebracht hat. Nach dem Krieg war er u. a. in Sao Paulo und Rio de Janeiro tätig und hat bei den Pariser Ballets des Champs-Elysées „Le Portrait de Don Quichotte“ mit Jean Babilée herausgebracht. Oscar Fritz Schuh hatte ihn bei seinem Amtsantritt als Generalintendant als Ballettchef nach Köln engagiert – zusammen mit dem jungen Kapellmeister Wolfgang Sawallisch und dem Bühnenbildner Caspar Neher. Das waren damals tolle Aufbruchsjahre in Köln – auch Luitpart ging als Milloss' Vize nach Köln (und ich aus Berlin zum Kölner Verlag DuMont-Schauberg). Von 1960 bis 1963 krempelte Milloss die ganze Kölner Ballettszene um, holte Woizikowsky als Ballettmeister, inspirierte Béjart zur Uraufführung seiner „Reise“, lud Birgit Cullberg mit dem „Mondrentier“ ein und Massine, samt Originalausstattung von Picasso, mit dem „Dreispitz“. Außerdem veranlasste er die Übersiedelung der Krefelder Sommerakademie nach Köln – und choreografierte laufend Ballette zu Musik von Bartók, Strawinsky und Schönberg, die er von erstklassigen Malern ausstatten ließ.

Als brillanter Geschichtenerzähler konnte er oft kein Ende finden, so, dass wir nach der Sperrstunde häufig im Wartesaal des Hauptbahnhofs landeten. Leider verfügte er nur über ein sehr beschränktes Schrittmaterial, so dass seine Ballette eins wie das andere aussahen – bloß eben anders ausgestattet. Das trübte auch mein anfangs euphorisches Verhalten zu ihm und wuchs sich zu einer Gegnerschaft aus, in der sich starke Kräfte auf seine Seite schlugen – vor allem die FAZ mit ihrer damaligen Ballettkritikerin Araça Linfert-Makarowa (einstmals selbst Tänzerin) nebst dem ungemein einflussreichen Italien-Korrespondenten der FAZ, Gustav René Hocke, und der eminent gescheite Psychoanalytiker Gerhard Zacharias (Autor des damals viel diskutierten „Ballett – Gestalt und Wesen“, der mir 1962 sein Buch noch freundlich widmete, um mich wenig später heftigst zu attackieren).

Nach Köln war Milloss dann weiterhin an großen Häusern tätig, vor allem in Italien, an der Mailänder Scala, der Römischen Oper und beim Maggio Musicale Fiorentino und zweimal Ballettdirektor der Wiener Staatsoper, von 1963 bis 1966, und von 1971 bis 1974, – ein vielseitiger, ungemein anregender Mann, von seiner hühnenhaften Gestalt her ein Nachfahre der Condottieri der italienischen Renaissance. Keins seiner Ballette hat überlebt, und ich muss schon lange nachdenken, welche wichtigen Ballette er denn damals in Wien herausgebracht hat. Gleichwohl hat er Geschichte gemacht, indem er Nurejew nach Wien eingeladen hat zu seiner ersten großen Klassiker-Produktion, den „Schwanensee“ von 1964 mit Fonteyn und ihm selbst in den Hauptrollen – bis heute die – neben der „Puppenfee“, versteht sich – Hauptsäule des Wiener Staatsopern-Ballettrepertoires (in seiner Dauerhaftigkeit nur noch übertroffen von Crankos Stuttgarter „Romeo und Julia“). Wir können uns das heute gar nicht mehr vorstellen, wie schwer es war, diese Produktion gegen den heftigen Einspruch der sowjetischen Kulturfunktionäre durchzusetzen. Und da hat Milloss eben Charakter bewiesen – unterstützt vom damaligen temporären Wiener Staatsoperndirektor Walter Erich Schäfer (der gerade in Stuttgart auf den Ballettgeschmack gekommen war).

Die Folgen für die generelle Klassiker-Rezeption im Westen waren unabsehbar. Und Nurejew ist ja dann immer wieder nach Wien (und in die ganze Welt) eingeladen worden, seine Neuinszenierungen des Standardrepertoires einzustudieren (wesentlich erfolgreicher übrigens als die paar Uraufführungen, die er immer mal wieder versucht hat.) Übrigens ist in diesem Zusammenhang an Linda Zamponi zu erinnern, eine Gruppentänzerin des Wiener Staatsopernballetts, die als eine Dolmetscherin und Chauffeuse für Nurejew während seiner Wien-Aufenthalte diente, und die nicht wenig dazu beigetragen hat, dass er – nachdrücklich dann auch von Gerhard Brunner gefördert – in Wien so heimisch wurde wie sonst nirgends auf der Welt – auch nicht in den Metropolen London, Paris und New York (siehe dazu auch das von Andrea Amort herausgegebene Buch „Nurejew und Wien – Ein leidenschaftliches Verhältnis“ (Wien, 2003).

Heute, an seinem 20. Todestag (wer erinnert sich noch an ihn – in Köln, Wien oder Italien?) – denke ich an ihn zurück als eine der markantesten Persönlichkeiten des Balletts, die mir je begegnet sind (und das waren in den inzwischen sechzig Jahren meiner professionellen Tätigkeit eine ganze Menge). Unvergessen der lange Spaziergang vor fast einem halben Jahrhundert, auf dem er mich wie ein Cicerone in die Kultur- und Geisteswelt von Florenz einführte. Höchst lebendig die schier endlosen Nächte von Köln in den jungen sechziger Jahren, in denen er seine gerade im Entstehen begriffenen Ballette schilderte, wie sie wie ein Feuerwerk auf dem Reißbrett seiner Fantasie explodierten. Nur dass sie hinterher, wenn das Pulver seiner Eloquenz verschossen war, auf der Bühne auch so aussahen – tote Elementarteilchen, fein geordnet, denen jeglicher tänzerische Atem abhandengekommen war.

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