Durchs Feuer gelaufen

Ein Gespräch mit Robert Tewsley

London, 07/11/2007

„Wir machen das auf Deutsch, oder?“ sind fast die ersten Worte, mit denen mich der englische Tänzer Robert Tewsley am Bühnenausgang des Londoner Sadler’s Wells Theaters begrüßt, bevor wir zum Interview in ein nahegelegenes Restaurant übersiedeln. Auf mein Erstaunen über seinen perfekten Akzent erzählt er mir von seinem Deutschstudium, das er vor zwei Jahren begonnen hat: „Ich habe immer viel gelesen. Wenn ich zum Beispiel für ein paar Wochen in Tokyo bin, lese ich zehn Bücher, und da dachte ich: ich sollte meine Zeit ein bisschen besser anlegen. Also hatte ich die Idee, mit der Open University anzufangen.“ Auch Politik und später Französisch stehen auf dem Lehrplan: Robert Tewsley nimmt sein Studium so ernst wie seinen Tanz und scheint es ebenso sehr zu genießen. „Ich wollte einfach etwas studieren, was mich interessiert, auch um später neue Möglichkeiten zu haben. Deutsch finde ich ganz toll – ich habe das immer geliebt, aber jetzt noch mehr.“

Robert Tewsley reizt die Idee, nach seiner Tänzerkarriere einen völlig neuen Bereich zu entdecken: seine Interessen reichen von der Botanik bis zu den internationalen Beziehungen. Zurzeit allerdings kann vom Aufhören noch keine Rede sein, denn nach vier Jahren als Freelance-Tänzer fehlt es ihm weder an interessanten Aufträgen noch an Energie. Der ehemalige erste Solist des National Ballet of Canada, des Stuttgarter Balletts, des Londoner Royal Ballet und des New York City Ballet genießt heute vor allem die Freiheit, seine Stücke auszuwählen und sein Repertoire immer mehr zu erweitern: „Ich hatte in diesen vier Jahren so viele neue Projekte, ich habe so viel Neues gelernt, das habe ich nie erwartet. Die letzten vier Jahre haben wirklich Spaß gemacht, und ich tanze jetzt nur, wenn es etwas ist, was ich wirklich tanzen will.“

Zu diesen Stücken, die Robert Tewsley wirklich interessieren, gehört unter anderem David Bintleys 1995 in Stuttgart uraufgeführtes Ballett „Edward II“, in dem er im September in Birmingham sein Rollendebüt gab: „‚Edward’ wollte ich immer tanzen. Als ich letztes Jahr für ‚Cyrano’ beim Birmingham Royal Ballet war, habe ich gesehen, dass das für dieses Jahr auf dem Spielplan stand. Da hat mir David gesagt, dass er mich schon in Stuttgart für die Rolle vorgesehen hatte.“ Die lange Wartezeit hat sich gelohnt: sein Porträt des schwachen Königs von seiner Krönung bis zu seiner brutalen Ermordung zeigt, dass Robert Tewsley nichts von der schauspielerischen Intensität und dem intuitiven Rollenverständnis verloren hat, die ihn seit jeher zu einem außergewöhnlichen Interpreten dramatischer Rollen machen. Zusätzlich erreicht er in seiner unästhetisierten Darstellung von Edwards Qual eine neue Authentizität und Direktheit: „‚Edward’ ist so hart, so emotional, die Rolle hat so viele Facetten – sie ist anders als alle, die ich je getanzt habe. Es ist wirklich furchtbar, was in diesem Stück mit mir geschieht. An manchen Stellen fragt man sich: kann so etwas tatsächlich passieren auf der Bühne? Das finde ich auch interessant an dem Ballett: David hat mit ihm vor zehn Jahren die Grenzen des Tanzes erweitert. MacMillan hat bereits mit so etwas angefangen, beispielsweise mit ‚Mayerling’ – das ist auch eines meiner Lieblingsstücke. Aber ‚Edward’ ist doch noch etwas anderes, weil es irgendwie realer ist.“

Und tatsächlich überschreitet Robert Tewsley als Edward zuweilen beinahe die Grenzen des Tanzes, scheint selbst zu vergessen, dass er auf einer Bühne steht: „‚Edward’ ist ein Erlebnis, wie ich es nie vorher auf der Bühne gehabt habe. Die Generalprobe war ganz seltsam für mich: weil niemand im Publikum war, kam es mir fast nicht wie eine Vorstellung vor, sondern wie die Realität – das hat mich schockiert. Aber vielleicht kommt das auch davon, dass das Stück so eine große Bedeutung für mich hat: ich dachte, dass ich ‚Edward’ nie tanzen würde. Gott sei Dank hatte ich das Glück, dass David mich eingeladen hat.“ Mit seiner geschliffenen Technik und perfekten Linie, der großzügigen Eleganz seines Tanzes und seiner Fähigkeit, sich an verschiedene Stile anzupassen und den Sinn unterschiedlichster Choreographien zu erfassen und zu vermitteln, ist Robert Tewsley nicht nur für schauspielerisch anspruchsvolle Stücke eine herausragende Besetzung.

Dies zeigt er beispielsweise an anderen Abenden seiner Tournee mit dem Birmingham Royal Ballet als Lucien d’Hervilly in „Paquita“ und als Daphnis in Ashtons „Daphnis und Chloe“: „Paquita“ erinnert ihn an die klassischen Rollen, mit denen er seine Karriere begann, Asthons „Daphnis“ an seine Tage in der Royal Ballet School. Wenn man ihn nach einer Lieblingsrolle fragt, schüttelt Robert Tewsley verneinend den Kopf: sein Geschmack beim Tanz ist ebenso weitgefächert wie bei Büchern und beim Studium. „Normalerweise interessiert mich immer die Rolle am meisten, an der ich gerade arbeite – jetzt zum Beispiel ist mein Kopf wirklich voll mit Edward. Ich habe eigentlich kein Lieblingsstück, aber es gibt natürlich Rollen, die ich besonders gerne tanze.“ Zu diesen zählt unter anderem Armand Duval in John Neumeiers „Kameliendame“, eine seiner Paraderollen als erster Solist des Stuttgarter Balletts:

„‚Kameliendame’ war immer was Besonderes für mich. Das liegt teilweise daran, dass das Stück zu einer sehr wichtigen Zeit kam, nämlich kurz nach meiner schweren Verletzung am Rücken. Damals war ich ein bisschen verloren in Stuttgart und hatte meinen Platz noch nicht gefunden. Die ‚Kameliendame’ hat mir so viel bedeutet, ich habe so sehr an das Stück geglaubt: für drei Stunden war das mein Leben und ich habe es einfach gelebt. Wenn ich auf der Bühne stehe, muss ich immer einen persönlichen Bezug zu dem Stück haben, sonst ist es ganz schwierig zu tanzen. Es wäre unfair, ein Ballett zu tanzen, an das man gar nicht glaubt – es muss einen Sinn geben, warum man das macht. Die ‚Kameliendame’ letztes Jahr an Silvester war für mich auch eine besondere Vorstellung, weil ich dachte, es wäre vielleicht die letzte – ich weiß nicht, wann ich das wieder tanzen werde, vielleicht gibt es keine Möglichkeit mehr.“

Robert Tewsley erzählt, dass er die meisten Rollen sehr intuitiv angeht, indem er sich völlig in die jeweilige Person versetzt und fragt, wie er in dieser Situation handeln würde. Beispielsweise in „Edward“: „Ich stand einfach mit den anderen im Ballettsaal, habe auf die Musik gehört und gewartet, wie ich reagiere. Aber schließlich ist jede Vorstellung ganz anders gewesen – das macht das Ganze so interessant. Es ist jetzt schon anderthalb Wochen her, seit ich ‚Edward’ getanzt habe, und ich glaube, die nächste Aufführung wird wieder ganz neu werden.“ Für ihn ist es vor allem wichtig, eine Rolle zum Leben zu erwecken und, beispielsweise in Klassikern wie „Schwanensee“, eine neue, eigene Interpretation zu finden. Angesichts seiner besonderen schauspielerischen Gabe ist es wenig verwunderlich, dass Robert Tewsley während seines Engagements beim New York City Ballet vor allem die darstellerischen Rollen vermisst hat.

„Als ich nach New York gegangen bin, wollte ich einfach so oft wie möglich auf der Bühne stehen. Es ist sehr interessant, wie man Balanchine in New York tanzt und ich habe bei der Arbeit mit Peter Martins viel gelernt. Ich würde jetzt zum Beispiel ‚Stravinsky Violinkonzert’ ganz anders tanzen als früher in Stuttgart.“ Doch erinnert sich Robert Tewsley mit Vorliebe an Boris Eifmans Ballett „Musagète“, in dem der russische Choreograph für ihn die Rolle des George Balanchine kreierte. Das Stück über das Leben des Gründervaters des New York City Ballet erregte bei seiner Uraufführung einen in New York ungewöhnlichen Aufruhr der Begeisterung und Empörung: „Das Publikum hat das geliebt und die Kritiker haben das gehasst – die waren so erschrocken, dass jemand ein Stück über Balanchine machen konnte. Manche haben auch gefragt: wie kann das sein, dass ich Balanchine spiele? Für mich war es am Anfang schwierig, Balanchine zu verkörpern, aber es hat wirklich Spaß gemacht. Da habe ich wieder gemerkt, warum ich eigentlich tanze – das hatte ich zeitweilig verloren in New York. Ich kam zu dem Schluss, dass es Zeit wäre, entweder aufzuhören oder wieder was Neues zu machen. Ich musste etwas für meine Ziele tun.“

Robert Tewsley schließt nicht aus, später einmal auf den Kontinent – nach „Europa“, wie er als Engländer sagt – zurückzukehren, den er vermisst. An Deutschland schätzt er vor allem die Liebe zur Kunst und die Bereitschaft, bei deren Förderung auch gewisse Risiken einzugehen: „Es ist schwer, Orte zu finden, wo der Tanz im Moment wirklich gewürdigt wird, wo man die Möglichkeit hat, etwas zu schaffen. Man versucht manchmal Sachen, die gar nicht so gut sind, aber als Künstler muss man neue Dinge machen. Deswegen bin ich stolz auf Stuttgart, weil dort neue Choreographen die Möglichkeit haben, etwas zu schaffen – wenn es schlecht ist, wird es eben nie wieder aufgeführt.“

Auch an Plänen für die nähere Zukunft fehlt es Robert Tewsley nicht, der bereits bis Ende 2008 beschäftigt ist: „Ich plane nur anderthalb Jahre im Voraus – man weiß nie was passiert. Ich will aufhören, wenn ich wirklich noch ganz fit bin. Im Moment bin ich noch in guter Form und die Projekte, die ich habe, sind sehr interessant.“. Gerne gastiert er beim Birmingham Royal Ballet: „Das ist eine tolle Kompanie. Sie erinnert mich sehr an Stuttgart: alles ist ganz locker, die Leute sind freundlich, das Gefühl ist wirklich gut.“ Nach seiner Tournee in England steht als nächstes eine neue ‚Kameliendame’ in Japan auf dem Spielplan, wo sich Robert Tewsley dank seiner häufigen Gastauftritte schon sehr zuhause fühlt; dann geht es nach Sydney und Wien. „Es war nicht geplant, dass ich Freelance-Tänzer werde, aber es hat geklappt. Gott sei Dank habe ich das gemacht: die letzten Jahre waren absolut prima, zuweilen schwierig, aber man muss Entscheidungen treffen und manchmal wirklich ins Feuer laufen – so bekommt man die Erfahrung.“

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