Tanz am Rande des Abgrunds

„Ladies first” von matanicola bei Tanz im August

Berlin, 31/08/2007

Vier Hochleistungsscheinwerfer strahlen blendend in den Zuschauerraum und tauchen die Bühne in diffuses Gegenlicht. Schemenhaft ist im Halbdunkel eine Silhouette zu erkennen, die nur langsam an Konturen gewinnt. Ein langer schlanker Körper mit eigenartig verdrehten Gliedmaßen bewegt sich zeitlupenartig zu monoton dröhnenden Bässen in die Mitte des Plateaus, auf dem Stoffbahnen bizarre Falten werfen. Zwar deutet der helmartige Umriss eines Pagenkopfes auf einen Frauenkörper hin, doch bleibt das Geschlecht des einsamen Unbekannten im Dunkeln. Ein Schluchzen ertönt, die Gestalt erstarrt und wiegt sich in expressionistischen Krämpfen. Nach und nach kriechen fünf andere Schemen in den Raum. Entblößte Oberkörper, schwarze Strumpfhosen und gefährlich hochhackige Schuhe schälen sich aus der Finsternis und formieren sich zu einem Aufmarsch provozierender Verlockung. Mit diesem rätselhaften Bild, in dem sich opernhafte Tragik und dunkle, dekadente Sexualität vermischen, beginnt matanicolas „Ladies first”, eine abgründig glitzernde Hommage an die Varietéwelt der 20er-Jahre.

Leider vermag der Rest der Arbeit der unheimlichen Dichte dieser Ouverture nur wenig hinzuzufügen. 90 Minuten lang bevölkern sechs gutgewachsene junge Männer das Plateau und zelebrieren dort eine Revue, die den Glamour der Zeit zwischen den Weltkriegen ins Heute verpflanzt und dabei ausgiebig die Freuden und Leiden sexueller Differenz feiert. Gleichzeitig ist der Abend eine Art überdrehter Modenschau mit Werken des jungen israelischen Designers Yohanatan Zohar, dessen schillernde Kreationen sich munter im Fundus einer längst untergegangenen Epoche bedienen und die Performer in Felle, durchsichtige Bodies mit Strassbesatz und schleierartige Masken hüllen, die sie abwechselnd wie praktizierende Sadomasochisten, kokainabhängige Showgirls und beflissene Eleven einer zeitgenössischen Ballettaufführung aussehen lassen.

Hätten Nicola Mascia und Matan Zamir, die Schöpfer des Abends, ähnlich viel Sorgfalt auf die Choreografie und den dramaturgischen Aufbau verwendet wie auf das Produktionsdesign, wäre „Ladies first” sicherlich ein gigantisches barockes Spektakel geworden. So aber verstrahlen die Akteure, die sich munter zwischen den nur unzureichend verbundenen Szenen und den vom bildenden Künster Pablo Alonso bemalten Stoffbahnen hin- und herhangeln, oft kaum mehr als den naiven Charme fitnessgestählter Go-Go-Dancer in einem gutbesuchten Gay-Club. Das Abgründige, Bedrohliche, das dem Blick auf das verzweifelt hedonistische Universum dieser Nachtwelt etwas Faszinierendes verliehen hätte, kommt dabei leider viel zu kurz. Zwar gibt es immer wieder eindringliche kleine Szenen, in denen das Spiel um Macht und Unterwerfung zelebriert wird – wenn zum Beispiel einer der Tänzer sich mit verbundenen Augen dem rüden Körperkontakt der anderen aussetzt -, doch bleiben sie isolierte Inseln in einem gutgelaunten Meer des Kitsch, das seinen Mangel an Substanz durch eine stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Ästhetik zu kaschieren versucht.

Ein technisches Manko ist dabei auch die unterschiedliche Bewegungsqualität der Akteure. Während die Choreografen Zamir und Mascia ihre hart erarbeitete Sprache aus selbstverliebten Posen und Gesten des Bedrängens und Verweigerung so sehr verinnerlicht haben, dass sie auch einer bleischweren Unterwerfungsszene durch ein ironisches Drehen des Nackens noch augenzwinkernde Leichtigkeit verleihen können, bewegen sich ihre Mitstreiter oft eher unbeholfen. Erst im Schlussbild findet der Abend wieder zur unheimlichen Dichte des Anfangs zurück. Ein schwarzbemalter Jüngling im engen Body und ein grobschlächtiger maskierter Glatzkopf im weißen Sakko tanzen einen Pas de deux der verzweifelten Sehnsucht nach Nähe, während aus den Lautsprechern metallisches Stampfen das Aufkommen des Naziregimes ankündigt. In diesem Moment erhält das gesamte kokette Posieren des Stückes einen Sinn – denn schließlich waren sich die Hedonisten der 20er wohl bewusst, dass sie am Rande eines Abgrunds tanzten.

Bei aller Zwiespältigkeit muss man Nicola Mascia und Matan Zamir für ihren Mut zum Experiment loben. Nach jahrelanger Ensemblemitgliedschaft bei Sasha Waltz war den beiden Tänzern vor zwei Jahren mit dem wunderbar intensiven Duo „under” der erfolgreiche Schritt in die choreografische Selbständigkeit gelungen. Anstatt nun auf Nummer Sicher zu gehen, haben sich die beiden nicht nur an ein Gruppenstück gewagt, sondern auch an ein Universum des Kitsch und der großen Gefühle, an dem sich auch versiertere Choreografen die Zähne ausgebissen hätten. „Ladies first” ist sicherlich nicht matanicolas beste Arbeit – aber sie macht neugierig auf das, was noch kommen wird.


Links: www.matanicola.com / www.tanzimaugust.de

 

Kommentare

Noch keine Beiträge