Die Rolle ihres Lebens

Silvia Azzoni als John Neumeiers „Kleine Meerjungfrau“

Hamburg, 02/07/2007

Gestern hatte in Hamburg „Die kleine Meerjungfrau“ Premiere. In der Hauptrolle: Silvia Azzoni, seit 1993 in der Kompagnie, seit 1996 als Solistin und seit 2001 als Erste Solistin. Die überaus zierliche Tänzerin ist bekannt für ihren Perfektionismus und prädestiniert für eine Vielzahl von anspruchsvollen Rollen. So brilliert sie seit Jahren als wunderbar naiv-verspielte Marie in Neumeiers „Nussknacker“, besticht als fröhlich-freche „Fille mal gardée“, oder jüngst in der Wiederaufnahme von „A Cinderella Story“ als trotziges Aschenputtel. Sie ist eine edle und technisch perfekte Aurora in „Dornröschen“, eine anrührende Giselle, eine orientalisch-rätselhafte Nikija in „Bayadère“ und ein funkelnder „Rubin“ in „Jewels“ von Balanchine. Aber was sie jetzt in der Premiere der Hamburger Ballett-Tage am 1. Juli gezeigt hat, stellt all das weit in den Schatten.

Silvia Azzonis „kleine Meerjungfrau“ ist von einer unwiderstehlichen Authentizität – von der ersten bis zur letzten Sekunde. Ganz Wasserwesen zu Beginn, mit wellenförmigen Bewegungen und einer bewundernswerten Souveränität im Umgang mit dem überlangen Beinkleid, das ihre Schwanzflosse darstellt, sowie von einer akrobatischen Geschmeidigkeit, als gebe es keine Gelenke. Dann – nach der Begegnung mit dem Kapitän-Prinzen (überzeugend: Carsten Jung) – wird aus diesem unbeschwert-heiteren Meereswesen eine schüchterne, scheue, aber unbeirrbar kraftvoll Liebende. Irgendwie weiß sie gar nicht so richtig, was sie tut, wenn sie vom Meereshexer begehrt, in ein menschliches Wesen verwandelt zu werden, sie weiß nur: sie muss es tun. So stürzt sie sich mutig und voller Ungeduld in dieses Abenteuer, bei dem sie ihren Schutz und ihre Heimat verliert, die so viel mehr ist, als nur der Grund des Meeres. Sie strandet – nach einer schaurig brutalen Szene, bei der ihr der Meerhexer (gruselig-dämonisch: Otto Bubeníček) das Schwanzflossen-Beinkleid wie eine Haut vom Leib reißt – am Ufer. Plötzlich hat sie Füße und Beine, die sie nicht zu gebrauchen weiß, die ihr fremd sind, auf denen sie nicht gehen kann, die ihr höllische Schmerzen bereiten. Und sie kommt schier um in der Begrenzung und Einengung des Erdenlebens. Voller Qual muss sie zusehen, wie sich der Angebetete einer anderen zuwendet. Aber sie widersteht der Versuchung, ihre vertraute Meeresheimat dadurch zurückzugewinnen, dass sie den Prinzen tötet. Sie erkennt, dass Lieben heißt, ohne Gegenerwartung zu geben. Und so gibt sie letztlich sich selbst – und gelangt durch diesen tiefsten Verzicht in die andere Dimension: aus dem Wasser über die Erde in die Luft.

Wie Silvia Azzoni diese Verwandlung spielt und tanzt, wie sie – völlig aussichtslos – versucht, den Prinzen für sich zu gewinnen, wie sie kaum glauben und begreifen mag, dass sie den Prinzen nicht für sich gewinnen kann, weil er in dem ihm fremden Wesen die tiefe Liebe nicht erkennen und auch nicht annehmen kann, wie sie verzweifelt versucht, auf den für sie so ungewohnten Beinen zu gehen oder zu stehen, das verursacht eine Gänsehaut nach der anderen (wobei die intensive Musik Lera Auerbachs, die von den Hamburger Philharmonikern und allen voran dem Konzertmeister Anton Barakhovsky großartig gespielt wurde, ein Übriges tut). Silvia Azzoni ist hier alles zugleich: Frohsinn und Vertrauen, Sehnsucht und Hingabe, Angst und Verzweiflung, Mut und Verzagtheit, Hoffnung und Zuversicht, Resignation und Trauer – sie ist das Leben. Und die „kleine Meerjungfrau“ ist die Rolle ihres Lebens. Sie, die aufgrund ihrer Figur, aber auch ihrer heiteren Ausstrahlung eher für die mädchenhaften Rollen prädestiniert ist, entwickelt hier eine ungeahnt dramatische, intensive Darstellkunst. Und das ganz ohne Allüre: „Ich denke nicht nach, ich frage mich nicht, soll ich das jetzt so oder so interpretieren – ich bin einfach, ich bin da und tanze, ich kann gar nicht anders“, sagt sie über diese Rolle, und es ist ihr anzumerken, wie sehr sie damit verbunden ist.

Wenn eine Tänzerin derart in einer Rolle aufgeht, wenn sie nicht nur technisch brillant tanzen kann, sondern wenn sie all ihr Wesen, ihr Herz, ihre Seele mit einbringt – dann kommt es zu solchen Sternstunden, wie es diese Premiere eine war. John Neumeiers Choreografie und Inszenierung stieß beim Premierenpublikum nicht nur auf Zustimmung („Fernsehballett“, grummelte meine Sitznachbarin verächtlich zwischen zwei „Buhs“) – aber ganz egal, wie man dazu oder auch zu der (für mich faszinierend ausdrucksstarken) Musik von Lera Auerbach stehen mag – allein Silvia Azzoni ist ein Grund, sich „Die kleine Meerjungfrau“ unbedingt anzuschauen.

Weitere Vorstellungen am 3.7. und 13.7. im Rahmen der Ballett-Tage, und dann wieder am 5., 8., 16. und 30. September sowie am 11. und 13. November

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