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Berlin
TANZ ALS KAMPF UM DIE IDENTITÄT
Die palästinensische Tanzkompanie El-Funoun
1993, gegen Ende der ersten Intifada, stieß auch Omar Barghouti zu El-Founun. Aufgewachsen in Ägypten, hatte der gebürtige Palästinenser einen Großteil seines Lebens in New York verbracht und dort eine Kompanie geleitet, die Folklore mit Modern Dance-Elementen mischte. Gemeinsam mit den anderen Choreographen von El-Funoun begann er eine behutsame Modernisierung der Bewegungssprache, die damals noch weitgehend auf dem traditionellen Schreittanz Dabke aufbaute.
Über die Jahre hinweg hat sich die Gruppe zu einer gut organisierten Struktur entwickelt. Mehr als 50 Tänzer aller Altersgruppen, eine gezielte Ausbildung des Nachwuchses und ein künstlerisches Auswahlgremium machen die Kompanie zu einer Art demokratisch geführter Firma – mit dem Unterschied, dass nach wie vor alle Mitglieder ehrenamtlich arbeiten. Administrativ geleitet wird El-Funoun von Khaled Katamish und Noora Baker, die als einzige ein kleines Gehalt für diese Arbeit bekommen, zugleich aber auch Tänzer, Trainer und Choreographen sind.
Als fortschrittsorientierte säkulare Künstlergruppe kämpft El-Funoun einen doppelten Kampf: einen politischen gegen die israelische Besatzung und einen aufklärerischen gegen die Fundamentalisierung der palästinensischen Gesellschaft. So stoßen sich beispielsweise einige Traditionalisten an den Tänzen, in denen Männer und Frauen einander berühren. Um sich politische Unabhängigkeit zu erhalten, lehnt die Gruppe jegliche Förderung ab, die an Gegenleistungen gebunden ist – auch von Seiten der palästinensischen Regierung. Hauptsponsor ihrer Arbeit ist die schwedische Entwicklungshilfeorganisation Sida.
“Es geht uns nicht um Hamas oder Fatah”, erklärt Khaled Katamish, “es geht uns darum, dass wir jeden herausfordern werden, der in irgendeiner Weise unsere künstlerische Entwicklung hemmen will.˝ Im Moment befindet sich El-Funoun an einem künstlerischen und strukturellen Wendepunkt: Einerseits ist die Kompanie auf die Einnahmen durch Auslandstourneen angewiesen, andererseits ärgert es die Mitglieder, dass sie häufig in einem Rahmen präsentiert werden, bei dem ihre Herkunft wichtiger zu sein scheint als die künstlerische Qualität: “Wir sind keine armen Palästinenser”, formuliert PR-Manager Jamal Hadad seinen Unmut. “Wir sind künstlerisch produktive Menschen. Wir wollen den Leuten zeigen, dass es in unserer Gesellschaft mehr gibt, als nur Armut und Traurigkeit.” Gleichzeitig scheint das von ihm anvisierte Ziel, “irgendwann einmal so groß wie ‘Riverdance’ zu sein”, im Moment noch in weiter Ferne. Zu unzureichend ist die Ausbildung der Tänzer, zu niedrig das technische Niveau, das sich an zwei Probeabenden pro Woche mit ansonsten arbeitenden Interpreten erreichen lässt.
Zwar kamen in den vergangenen Jahren immer wieder namhafte Choreographen wie Alain Platel oder Thierry Smits für Workshops nach Ramallah, und Tänzer wie Noora Baker wurden zur Weiterbildung ins Ausland geschickt, doch fehlt der Arbeit die Kontinuität und finanzielle Basis.
Beim Auftritt im hochmodernen Ramallah Cultural Palace lässt die Energie der Gruppe jedoch alle technischen Mängel vergessen. Vor ausverkauften 740 Plätzen präsentiert El-Funoun einen Querschnitt durch die letzten 27 Jahre ihres Schaffens, wo sich Dabke, Showtanz und Release-Technik mit experimentelleren, oft stark theatralischen Stücken mischen. Immer wieder springen die Zuschauer auf, schwenken ihre Schals und singen mit. Das Solo des jungen Sharaf wird zum ohrenbetäubend beklatschten Höhepunkt. Gewidmet ist der Abend Osama Silwadi, einem mit der Gruppe befreundeten Photographen, der querschnittgelähmt ist, seitdem ihn bei einer Demonstration die verirrte Kugel eines Landsmannes traf.
Heute, mehre Monate später, flammen die innerpolitischen Kämpfe in Palästina gerade wieder auf. Was auch immer geschieht, El-Funouns künstlerischer Kampf wird in jedem Fall weitergehen.
Der Text erschien in: Die Deutsche Bühne 5/2007: www.die-deutsche-buehne.de www.el-funoun.org Nächste Vorstellung: am 25. Mai in London im Bloomsbury Theatre http://www.thebloomsbury.com/event/run/1002
Kommentare zu "Tanz als Kampf um die Identität"
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