„Heimatabend“ von Gregor Zöllig

Schlachtfeld der Gefühle

Das Tanztheater des Staatstheaters Braunschweig zeigt Gregor Zölligs Uraufführung „Heimatabend“

Es geht dabei nicht nur um Gemeinsamkeit, sondern immer auch um Suche, um Verlust und um Heimat als Last.

Braunschweig, 18/02/2018

Der Begriff „Heimat“ erlebt in unserer Gesellschaft eine Renaissance. Und doch sind die Vorstellungen darüber, was Heimat eigentlich ist, völlig uneinheitlich. Choreograf Gregor Zöllig nähert sich dieser Frage von verschiedenen Seiten und bietet in seinem neuen Tanzstück „Heimatabend“ eine Fülle von Interpretationen an. Rührselig-kitschige Klischees wie aus Filmen der 1950er Jahre, die das Wort „Heimat“ mitunter ebenso auslöst wie die Vorstellungen von Nationalismus und Volkstümelei, klammert der Braunschweiger Tanzchef zum Glück allerdings rigoros aus.

Am Anfang steht die Geburt gleichsam wie der Verlust der ersten Heimat. Auf dem schwach erleuchteten Bühnenboden befreit sich eine Tänzerin langsam aus einem weißen Kokon, wie aus einer Fruchtblase. Hilflos liegt sie da, windet sich und kriecht zuckend, bis sie schließlich mühsam und staksig wie ein Fohlen auf die Beine kommt. Die Musik ist sphärisch, Lichtpunkte und Kreise bewegen sich über die hellen Tücher, die als seitliche und hintere Begrenzung des Bühnenraumes aufgehängt sind. Doch die ruhige Stimmung bleibt nicht lange erhalten, der einsame Kosmos der Neugeborenen verschwindet. Und während die leuchtenden Sterne zu Wellen verschwimmen, drängen immer mehr Tänzer auf die Bühne, erst langsam, dann zunehmend rastloser, scheinbar bestimmt, doch irgendwie ziellos.

Heimatromantik, verbunden mit einem festen Ort oder einer bestimmten Kultur, bietet Zöllig als Bild nicht an. Die Kostüme (Annette Breuer) sind hauptsächlich grau, schwarz und dunkelblau, bunte Farben spielen ebenso wenig eine Rolle wie Folkloristisches. Die Kleidung ist unspektakulär, alltagstauglich und lässt somit keinen interpretatorischen Spielraum zu. Das tut allein die Choreografie, und obwohl es vermutlich nicht möglich ist, das Wort „Heimat“ zu tanzen (außer für eurythmisch Geschulte), lässt sich doch in Bewegung ausdrücken, was Heimat sein kann: ein Gefühl, eine Erinnerung, Geborgenheit und die Verbundenheit mit einem oder mehreren Menschen. Tänzer hängen wie eine Kette aneinander, ein festes Band, das Sicherheit gibt. Wer fällt, wird aufgefangen, wird getragen und aufgehoben, bleibt Teil des Ganzen. Die ganze Bandbreite der Heimat-Interpretationen spiegelt sich auch in der Musikauswahl – von Elektronikmusik über Techno und modernem Post-Rock bis zu meditativen Harfenklängen und japanischer Flötenmusik.

Wie immer nutzt der Braunschweiger Tanzchef die persönlichen Erfahrungen seines Ensembles für die choreografische Umsetzung. Und das ist bei diesem Thema besonders naheliegend, mussten die Tänzer doch alle ihre Herkunftsorte verlassen und sich immer wieder den Herausforderungen eines neuen Umfeldes stellen, das nicht selten nur eine weitere Station ist. Da bleibt mitunter nur das Beschwören gemeinsamer Traditionen, um sich ein Stück Heimat zurückzuholen – auf der Bühne als enthusiastische Schwärmerei für italienische Gerichte dargeboten.

 

Solche leichten Momente bilden aber eher die Ausnahme. Der Abend hat viel Bedrückendes, Düsteres, Aggressives. Und so geht es im „Heimatabend“ nicht nur um Gemeinsamkeit, sondern immer auch um Suche, um Verlust und um Heimat als Last. Die Bürde verdeutlicht Zöllig unterschiedlich, mal als besitzergreifende Umklammerung, mal als buchstäblich fallengelassene Liebe, als Tisch, der mühsam hinterher gezogen werden muss oder als Kampf mit einem Stoffberg, der am Fortkommen hindert. Die Symbolik erscheint jedoch weder beliebig noch übertrieben, sondern gut durchdacht. Sogar das übergestülpte Papphaus, mit dem sich eine Tänzerin langsam über die Bühne bewegt, wirkt als Requisite nicht unfreiwillig komisch. Heimat ist, was der Mensch im Kopf mit sich trägt, eine Utopie, die Sehnsucht nach einem Zustand, der vielleicht nur in unserer Fantasie jemals existierte.

Bei aller Bildhaftigkeit wirkt die Choreografie jedoch alles andere als verkopft. Und das liegt nicht zuletzt an den Mitgliedern des Ensembles selbst. Dynamisch und überzeugend demonstrieren sie ihre ewige Suche. Sie zittern, taumeln und stürzen, wollen wegkommen oder ankommen, suchen mit zarten Gesten vorsichtig Nähe oder weisen sie brüsk ab. In der 75-minütigen Vorstellung bieten die sieben Frauen und acht Männer nonstop ihr tänzerisches Können bis an die Grenzen zur Akrobatik, mitreißend bis zur Erschöpfung. Heimat ist eben auch ein Schlachtfeld der Gefühle.

 

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