„Onegin“ von John Cranko, Tanz: Ksenia Ryzhkova und Erik Murzagaliyev

Ein würdiger Auftakt zum Cranko-Fest

„Onegin“ beim Bayerischen Staatballett

Die Wiederaufnahme des Klassikers mit den Debuts von Ksenia Ryzhkova, Erik Murzagaliyev, Laurretta Summerscales und Emilio Pavan überraschte positiv.

München, 07/02/2018

Vor 50 Jahren präsentierte John Cranko seine erste Premiere in München. Dieses Jubiläum nimmt das Bayerische Staatsballett zum willkommenen Anlass, den Meister des Handlungsballetts mit einem Festmonat zu ehren. Im Februar präsentiert die Kompanie ein Cranko-Fest mit den Balletten „Onegin“, „Der Widerspenstigen Zähmung“ und „Romeo und Julia“ unter dem neuem Ballettdirektor Igor Zelensky mit seiner sich langsam zusammenfindenden internationalen Ballettgruppe. „Onegin“, beruhend auf Puschkins Vorlage, ist ein russisches Nationalepos, eine tragische Liebesgeschichte mit russischer Seele. Man war gespannt, ob diese technisch virtuose Truppe den hohen darstellerischen Ansprüchen, die die Cranko-Ballette stellen, gewachsen war. Zumindest von der ersten Besetzung von „Onegin“ wurde man nicht enttäuscht.

Auch bei einer ersehnten Wiederaufnahme nach sieben Jahren wirkt es leicht überdreht, wenn drei Frauen beim Nähen in geschwindem Gleichklang die Fäden lang ziehen. Doch Laurretta Summerscales ließ die Gefahr der Affektiertheit bei ihrem Debut schon in Olgas erster Variation weitgehend hinter sich, indem sie mit schönen Port de bras luftig und anmutig tanzte. Nach ihr ließ Jonah Cook mit exakter Klarheit die Choreografie von Lenskis erster Variation erstrahlen. Als Paar öffneten sie sich füreinander, ihr Pas de deux hatte Beseeltheit durch Liebe. Die Freude darüber machten beide sichtbar, sie durch hohe Ecartés und Fußschnelligkeit, er mit seinen Sprüngen. In der Begegnung mit Onegin war Ksenia Ryshkova, eben noch Olgas reifere Schwester, eine schüchterne, ganz junge Tatjana. Erik Murzagaliyev tanzte die Selbstverlorenheit des Titelhelden so ansehnlich, dass es folgerichtig war, wie scheu sie ihm in naiver Faszination folgte.

Spielfreudig zeigten Jungen und Mädchen des Corps in Freude auf ihre Begegnung beim bevorstehenden Fest eine Steigerung in ihren Tänzen bis hin zu den finalen Diagonalen. – Gut gelang auch in der Schlafzimmer-Szene Tatjanas Spiel mit der Amme und ihr Übergang in den Traum. Als ihr Onegin erschien, entsprach er jetzt ganz ihren Wünschen, denn Murzagaliyev strahlte Leidenschaft aus und Begeisterung, ja sogar Ehrerbietung für sie. Das Glück darüber erlebte Ryshkova sichtbar und vollendete dann voller Hoffnung den so genial lesbar choreografierten Brief an Onegin.

Der Auftakt zum zweiten Akt blieb auch mit vielen neuen Tänzern ein amüsanter Reigen unterschiedlicher Charaktere. In der Mitte ihrer Geburtstagsgäste allein, verdeutlichte Ryshkova zart Tatjanas Sehnsucht nach Liebe, und Murzagaliyev spielte ebenso elegant Onegins gesellschaftliche Gewandtheit wie dessen schnöselige Teilnahmslosigkeit, mit der er ihren Liebesbrief zurückwies. Während außer Onegin alle auf Jürgen Roses prächtiger Bühne, beleuchtet von Christian Kass, in herrlichen Farben erstrahlten und wie beflügelt von der Freude des Festes tanzten, machte Ryshkova in der Geschwindigkeit ihres Solos mit Tatjanas heller Verzweiflung betroffen. Umso neckischer tanzten Onegin und Olga miteinander, bis Lenski die Fassung verlor. Alle trugen zum Gelingen des Aufbaus dieser Szene bei, die dramatisch gipfelte in Lenskis Forderung an Onegin. – Im Bild des kalten russischen Winters brachte Jonah Cook den Schmerz Lenskis über dessen bevorstehenden Abschied vom geliebten Leben so durchgängig zum Ausdruck, dass sein virtuoser Tanz zum faszinierenden Legato geriet. In seinem verzweifelten Zwiespalt zwischen Einlenken und Behauptung seiner Ehre ließ er sich weder von Olga und Tatjana vom Duell abbringen - so lebhaft sie ihn auch beschworen - noch von Onegin, der sein Angebot zur Versöhnung ruhig vortrug und nach der Tötung des Freundes für seine Begegnung mit den Frauen zwar noch nicht das perfekte Timing fand, aber am Ende doch, entsetzt über sich selbst, so einknickte, dass es überzeugte.

Zehn Jahre später wird Onegin von Fürst Gremin, dessen Gattin Tatjana nun ist, auf einen prächtigen Hausball mit schön 'fliegenden' Paaren geführt. Nach der Grand Polonaise schwebte Murzagaliyev samtweich durch Onegins Traumvision von jungen Mädchen, die ihn früher umschwärmten. Doch real ist er hier allein, elektrisiert vom Erscheinen Tatjanas, der Herrin des Hauses, nun eine glänzende Dame der St. Petersburger Aristokratie. Ryshkova genoss das Hochgefühl ihrer Existenz sichtlich. Emilio Pavan, ihr sicherer Partner, wurde in diesem ruhigen Pas de deux der Eheleute – auch in den Augen des Publikums – zum Charakter, der Vertrauen verdient. Onegins schwindlige Flucht davor ließ spüren, wie die Frische des wieder auflebenden Balles in völligem Gegensatz dazu steht, wie er sein Schicksal empfand. – Aufgewühlt ist auch Tatjana mit Onegins Brief in den Händen. Den verbirgt sie beim Abschied ihres ehrbaren Gatten. Mit dem dramatischen Crescendo der Musik sieht man im Voraus den Schatten des herbeistürzenden Onegin. Dann ist er bei ihr, und im Kampf zwischen unvergessener Leidenschaft und gegenwärtiger Vernunft gegen seinen zu späten, verzweifelten Eroberungswunsch tanzten beide so expressiv, so tief in ihren Rollen, dass es – wenn man so sagen darf – an orgiastischen Tanz grenzte.

Ksenia Ryshkova ist noch jung, doch sie schaffte es, dass man die Ausnahmetänzerin Lucia Lacarra, die ihre Rolle früher hier tanzte, während der Vorstellung nicht vermisste. Auf ihre weitere Entwicklung kann man sich freuen. Erik Murzagaliyev machte als Onegin einen großen Schritt vorwärts, Laurretta Summerscales fing an, ihre schwungvolle Frische durch seelisches Engagement aufzuwerten, und Emilio Pavan war in den Fußstapfen des großartigen Peter Jolesch eine schöne Entdeckung. Man konnte, und damit war der Sinn dieser Cranko-Fest-Eröffnungsvorstellung erfüllt, vor dem Genie dieses Choreografen niederknien, und endlich hatten die Zuschauer wieder einmal leuchtende Augen.

Nachtrag: Zwei Tage nach dieser Wiederaufnahme, als die zweite Besetzung tanzte, war von der mitreißenden Wirkung des Stücks nur noch wenig zu sehen. Das lag wohl daran, dass Alexey Popov bei Lenskis Tanz mit Prisca Zeisel weitgehend auf sich selbst konzentriert blieb und den Subtext wachsender Verliebtheit kaum spielte. Vladimir Shklyarov tanzte Onegin zwar gut, aber wenig aussagekräftig, so dass Ivy Amista bei ihrem Debut als Tatjana seinen Teil mitspielen musste. So konnte sie auch im zweiten Bild von der inneren Dimension relativ wenig sichtbar machen, schien von Einsatz zu Einsatz zu eilen und stärker auf Onegins Traumgestalt zu reagieren, als diese ihr dazu Grund gab. Denn Vladimir Shklyarov ließ von Hingabe an Tatjana wenig erkennen. Mit diesem eindimensional sich selbst präsentierenden Partner hat man Ivy Amista keinen Gefallen getan. Ob sie zu mehr Tiefe fähig wäre, muss Spekulation bleiben. Immerhin war es ihr in Ansätzen mit Emilio Pavan und im Schluss-Pas de deux möglich. Schlecht tanzte zwar niemand, doch dass man an diesem Abend von einem Liebesdrama emotional berührt war, konnte weniger der Fall sein.

Wie wohl diese Kompanie, die so anders ist als das Stuttgarter oder das bisherige Münchner Ensemble, die weiteren Cranko-Ballette meistert? Wir dürfen gespannt sein.

 

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