„Travelogue I“ von Sasha Waltz

Ein choreografischer Geniestreich wird 25

„Travelogue I“ von Sasha Waltz amüsiert im Berliner Radialsystem V

Die „Travelogue“-Trilogie blieb Kult bis heute und wird daher in Abständen reanimiert. Warum diese Langzeit-Resonanz? Weil die Choreografin uns am Beispiel einer Wohngemeinschaft verdammt gut auf die Finger geschaut hat.

Berlin, 30/01/2018

Es ist alles wie damals: die breit gestreift tapezierte, schon etwas abgewohnte Küche mit Fenster in der angeschrägten Wand, als Mobiliar nur Lampe, Tisch, Stühle, Kühlschrank. Gegenüber eine dunkle Mauer mit aufgemaltem Bord. Fast wie damals. Denn dazwischen liegen 25 Jahre, auch der Spielort ist nicht mehr derselbe. Als Sasha Waltz mit ihrer frischformierten Kompanie 1993 im Theater am Halleschen Ufer als Debütwerk „Travelogue I – Twenty to eight“ vorstellte, begann für Berlin eine andere Zeitrechnung im Tanz. Wohin Sasha Waltz & Guests, wie sich die Gruppe nannte, auch zog, ab 1996 in die Sophiensaele, denen sie ihre goldene Ära bescherten, bald auch auf internationale Tourneen – „Travelogue I“ war meist dabei, wurde ein Welthit und zog bald zwei weitere Teile nach sich. Die „Travelogue“-Trilogie blieb Kult bis heute und wird daher in Abständen mit anderer Crew reanimiert. Warum diese Langzeit-Resonanz? Weil die Choreografin, lange auch Mittänzerin, Waltz uns am Beispiel einer Wohngemeinschaft verdammt gut auf die Finger geschaut und das in unbefristet gültige Form gebracht hat. Wenn das Quintett auf der Szene sich kabbelt, beharkt und lächerlich macht, können wir Zuschauer hämisch grinsen – oder besser in selbstkritisches Nachdenken verfallen.

Die neue Spielserie von „Travelogue I“ hat im Radialsystem V auf größerer Fläche ihre Küche aufgebaut und wartet auch mit neuer Mannschaft auf. Außer der unverwüstlichen Takako Suzuki, die von der Premierenbesetzung übrig geblieben ist und dank ihrem filmischen Gedächtnis die Proben geleitet hat. Sie ist auch die erste, die den Gemeinschaftsraum betritt. Zuvor haben ihre Mitbewohner durch eine Tür in den Flur hinein schon mit wumsenden Pfeilen Dart gespielt. Da sind Welt und WG noch in Ordnung. Doch bereits, wenn Suzuki vom Kühlschrank herunter japanisch parliert und sich unbeobachtet glaubt, scheint etwas nicht ganz koscher. Auch Edivaldo Ernesto verhält sich seltsam in sich gekehrt, sogar als er unter das weiße Tischtuch gerät. Jean-Marc Zelwers Streicher-Musik im Tango-Touch, vom Tristan Honsinger Quintett klangedel eingespielt, legt Spannung über die anfängliche WG-Langeweile mit ihrem Stuhlgekippel.

Das ändert sich, als Davide Camplani mit einem Brot auftaucht, Ernesto es an sich reißt, sich abseits den Mund vollstopft und ein winziges Krümelchen den sitzenden Vier zum Mahl anbietet. Nicht nur das Brot, auch die Anmutung von Gemeinschaft beginnt da zu bröckeln. Dann treten sie zutage, die geheimen Wünsche und unterdrückten Begehrlichkeiten, die kleinen Gehässigkeiten und großen Gemeinheiten. Fröhlich kommt sich ein Paar näher, sie fängt ihn auf und lässt ihn in der Hebung eine Wand abschreiten. Da ist noch Leichtigkeit im Spiel. In der Stille beobachten sich dann zwei Frauen, verstohlen, mit Blick durchs Schlüsselloch, dann unterm rhythmischen Knall klappender Türen unverhohlen. Derweil passieren die beiden Männer schwatzend immer wieder die fliegenden Türen, ohne davon irgend behelligt zu werden. Spätestens hier offenbart sich einer der Vorzüge dieser gut einstündigen Bestandsaufnahme zwischenmenschlichen Verhaltens: ihre atemberaubend präzise Komposition und, was bald noch mehr zum Tragen kommt, ihre amüsant süffisante Ironie.

Sehnsüchtig legt sich eine Frau über den Tisch, die Beine in Erwartung gespreizt. Mit dem hinzutretenden Mann kommt es zu einem langen Hin und Her der Gefühle, weil keiner sich offen bekennen mag. Wie im Tango, welch treffendes Bild, verhakeln sich die Beine, prallen Leiber zusammen. Sie erzittert, er tut lässig, will sie einklemmen, sie streift ihm das T-Shirt ab, entwindet sich. Ihm bleibt als ‚Partner’ nur die Tischkante. Die zärtliche Nackenmassage, mit der das Duo dann doch endet, wird wiederkehren, als die zwei Männer eine Kurzaffäre haben. Davor erste Aggressionen: Keiner will andere den Kühlschrank öffnen lassen. Man kippt darauf Sitzende ab, erobert selbst den Platz. Das erbeutete Hühnchen wird zur Trophäe. Als die Rubettes im Falsetto von „Sugar Baby Love“ singen, tanzt eine Frau in rotem Licht ihre Sehnsüchte, der Mann aus der Dusche tritt diskret beiseite, statt zu handeln.

Dann steigert sich das Geschehen in Parallelaktionen. Ernesto klappt sein Bett aus, will schlafen, Suzuki rattert mit der Tischnähmaschine, nickt ein, Geschirr und Flaschen klappern, Türen schlagen zu, man wischt, putzt, randaliert. Hektisch wie aufgezogene Marionetten trippeln und tapsen die Bewohner: eine Gemeinschaft in Puppenhaus-Aufruhr von schreiender Komik. Als die Musik stoppt, das Licht erlischt, liegen Akteure und Küche im Chaos. Sie, die wunderbaren Tänzer, zu denen ebenso Maria Marta Colusi und Florencia Lamarca gehören, erfüllen die entlarvend erfundenen Bilder mit lebensvoller Prallheit. Das Publikum ist euphorisiert, die Erfolgsstory von „Travelogue I“ noch längst nicht zu Ende.

 

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