„Amadé“ von Olaf Schmidt, Tanz: Anibal dos Santos, Wallace Jones

Mozarts Seelentiefen einfühlsam ergründet

Olaf Schmidts „Amadé“ am Theater Lüneburg

Ein spannendes und sensibel ausgelotetes Seelen-Portrait des großen Komponisten und ein Stück, dem eine ganz große Bühne gebührt.

Lüneburg, 21/01/2018

Seit Milos Formans Film „Amadeus“ (1984) gilt Wolfgang Amadeus Mozart als der junge Wilde unter den klassischen Komponisten, kompromisslos seine Lebensfreude und seinen Übermut auskostend, und fast wie nebenher auch noch komponierend. Dass das nur die halbe oder sogar ein eher noch erheblich kleinerer Bruchteil der Wahrheit ist, macht Olaf Schmidt mit seiner neuesten Kreation „Amadé“ für das Ballett Lüneburg jetzt augenfällig. Und wieder einmal wünscht man diesem großartigen Geschichtenerzähler unter den zeitgenössischen Choreografen eine größere Bühne, eine größere Kompanie und überhaupt mehr Beachtung. Was er hier mit geringen Mitteln und seinen zehn exzellenten Tänzer*innen auf die Bühne zaubert, ist spektakulär. Und nach dem grandiosen Schluss möchte man das Stück am liebsten gleich noch einmal sehen – so sehr zieht es in seinen Bann (selbst in der 20. und somit vorletzten Reihe des ehemaligen Kinos, und auch wenn einem eine hochgewachsene Dame mit voluminöser Haarpracht immer wieder die Sicht versperrt).

Schmidt zeigt hier weniger den Harlekin in Mozarts Wesen, sondern vor allem die Schwierigkeiten, mit denen er zeitlebens zu kämpfen hatte. Da ist der herrschsüchtige, strenge Vater, der seine beiden hochbegabten Kinder Nannerl und Wolferl als willkommene Einnahmequelle wie ein Zirkusdirektor zu ständig neuen Höchstleistungen treibt. Immer wieder zerrt er sie auf anstrengenden Reisen durch ganz Europa, in einer Zeit der Postkutschen und unwegsamen Straßen, mit mangelhafter medizinischer Versorgung und Hygiene. Mag sein, dass diese Strapazen nicht ganz unschuldig waren für Mozarts frühen Tod. Neben dem Vater die stille, fügsame Mutter, die ihrem Mann nichts entgegenzusetzen hatte. Die strenge, gottesfürchtige Gesellschaft, die sich Mozarts Zaubermusik aber dennoch nicht zu entziehen vermag.

Man habe nicht vorgehabt, den zahllosen verklärenden Mozart-Bildern ein weiteres hinzuzufügen, betont Dramaturgin Christina Schmidt in der Einführung zum Stück vor der Premiere (mit ihr hat Schmidt schon in Regensburg erfolgreich zusammengearbeitet, in Lüneburg unterstützte sie ihn bereits mehrfach, zuletzt Anfang 2017 bei der „Geschichte von Blanche und Marie“). Man könne heute nicht mehr feststellen, ob der Mozart, den man zu kennen meine, wirklich Mozart sei oder nur das Ergebnis einer 200-jährigen Legendenbildung. Zwischen Fakt und Fiktion sei kaum noch zu unterscheiden. Als Quelle habe man sich deshalb vorwiegend auf Original-Briefe gestützt, die von Mozart noch erhalten geblieben sind, um auf diese Weise schlaglichtartig in assoziativen und überhöhten Bildern bestimmte Themen ins Bewusstsein zu rufen, die Mozart beschäftigten und sein Leben prägten: der Vater, die Kunst, die Frauen, das Geld, die Arbeit, die Schönheit. Ein kluger Kunstgriff. Denn bei aller Lückenhaftigkeit erschließt sich so ein ganz neuer Blick auf den Menschen Mozart, der viel mehr in die Tiefe geht als alles, was Film und Musical bisher über ihn vermitteln konnten. Schon deshalb gebührt diesem Stück eine ganz große Bühne.

Schmidt macht den Menschen Mozart nahbar und verletzlich. Er spiegelt seine Höhen und seine Abgründe, sein Auf und Ab, nicht seine Oberfläche. Man ist zutiefst berührt davon und hört und versteht Mozarts Musik plötzlich ganz neu. Barbara Bloch erfindet mit ihrem Bühnenbild dafür ebenso einfache wie einprägsame Bilder: in Goldlamé gehüllte Pezzibälle als überdimensionale Mozartkugeln, eine schwarz-weiß gewandete Statisterie als Spießergesellschaft, einen Plexiglas-Gittervorhang, der dem Publikum den Spiegel vorhält und vor dem Mozart ganz zu Beginn mit weißer Maske auf sein Publikum blickt und auf das, was man aus ihm gemacht hat. Susanne Ellinghaus steckt die Tänzer in schlichte, aber zu jedem Bild wieder von Neuem passende Kostüme, die ebenso tanzbar wie schön anzuschauen sind.

Schmidts ausgefeilte Choreografie verlangt den zehn Tänzer*innen in Soli wie Ensembles Höchstleistungen ab – die diese bravourös meistern. Allen voran Anibal dos Santos als Amadé, Wallace Jones als Vater und Giselle Poncet als Mozarts Schwester, aber auch Gabriela Luque als Ehefrau, Claudia Rietschel als Mutter und Julia Cortés als Cousine. Phong Le Thanh, Rhea Gubler, Wout Geers und Francesc Marsal schlüpfen in ständig neue Rollen und komplettieren die Szenen souverän. Zwei Höhepunkte seien besonders hervorgehoben: zum einen eine Szene zur Spiegelung des zirzensischen Dompteursgehabes, mit dem Leopold Mozart Wolferl und Nannerl europaweit vorführt, und in der Wallace Jones, Anibal dos Santos und Giselle Poncet zum orchestrierten Rondo „alla turca“ aus der Klavier-Sonate A-Dur eine tänzerische Glanzleistung nach der nächsten abliefern. Und zum anderen die Ball-Nummer nach der Pause, wenn alle Tänzer mit erkennbarem Spaß die „Mozartkugeln“ in ständig neuen Varianten über die Bühne treiben. Das ist einfach grandios inszeniert, ganz großes Kino!

Die Lüneburger Symphoniker spielen das anspruchsvolle Mozart-Potpourri aus unter anderem Opern-Ouvertüren, Klavierkonzerten und Streichquintetten nicht immer ganz tonsicher, aber mit viel Gefühl. Signe Ravn Heibergs glockenklarer Sopran zeichnet eindrucksvoll und immer wieder wie spielerisch in die Tanzszenen integriert die Vielfalt der Singstimmen, von einfachen Liedern wie „Komm, lieber Mai, und mache“ bis zu höchst anspruchsvollen Arien aus Konzert und Oper („Don Giovanni“, „Zaide“).

Umwerfend und zutiefst bewegend dann der Schluss: Mozarts allerletzte Komposition, das „Lacrimosa“ aus dem Requiem, in der unvollendeten Fassung und nur mit den Stimmen, die Mozart selbst noch komponiert hat, also ohne das sonst übliche „Amen“, und als einziges als Tonband-Aufnahme, weil es einen Chor erfordert. Gerade in dieser Unvollkommenheit wird die Musik noch zwingender, während Anibal dos Santos dazu in der hochkant gestellten Mozartkugel-Schachtel fast bis ganz nach oben klettert, sich in eines der Löcher setzt und die Maske übers Gesicht zieht. Eine abrupt abrechende Musik – ein abrupter, verstörender, viel zu früher Tod. Ein großartiges Ballett.

 

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