„Der Nussknacker“ von Birgit Scherzer

„Der Nussknacker“ von Birgit Scherzer

Einsame Seelen

„Der Nussknacker“ am Thüringer Staatsballett

Birgit Scherzer will in Gera Tschaikowskis Ballett „Der Nussknacker“ aufmischen und präsentiert teils eine Groteske mit viel Zuckerguss. Dabei beginnt diese Inszenierung so hoffnungsvoll.

Gera, 15/12/2017

Es beginnt mit Käse. Vor der Tür zum Weihnachtszimmer mit dem übergroßen Schlüsselloch - auf der Bühne von Manfred Gruber - liegt ein großes Stück Käse und davor ein paar Krümel. Und schon tummeln sich die jüngsten Mitglieder des Kinder- und Jugendballetts als herzallerliebste Mäuslein, von denen keines in eine der beiden Minifallen gehen wird. Später bewähren sich diese Kinder auf hoher See und auch im Reich der von Filip Kvačák getanzten Schneekönigin als kleine Gummibärchen oder Minichinesen.

Dabei ist der Anfang dieser Inszenierung so hoffnungsvoll, wenn unterm riesigen Weihnachtsbaum im sattsam bekannten Dekor landesweit üblicher Einkaufspassagen die Geschichte ihren Lauf nimmt. Treffend charakterisiert und mit entsprechendem, zeitgenössisch grundiertem Bewegungsmaterial im Dialog mit klassischen Elementen agieren Alina Dogodina und Fabrizio Matarrese als Eltern von Clara und Fritz (Stefania Mancini und Vinícius Leme) sowie Ayslu Kamaletdinova und Luis Piva als Onkel und Tante der Kinder und deren von Yi Han getanztem, frechem Sohn. Vitalij Petrov als Pate Drosselmeier wird von der Inszenierung nicht sonderlich hervorgehoben, seine mechanischen Spielzeuge - wie eine Puppe nach Art einer Coppelia, Harlekine, ja selbst der Mäusekönig - lassen die Kinder seltsam unberührt und die Erwachsenen haben ohnehin genug mit sich selbst zu tun.

Da ist es gar kein Wunder, wenn die sensible Clara sich einem hölzernen Wesen, eben jenem Nussknacker, zuwendet und ihn in ihrer Fantasie beseelt. Sie ist es dann auch im Traum dieser Weihnachtsnacht, die seinen Rivalen, den Mäusekönig, besiegt, worauf das hölzerne Männlein zum Leben erwacht. Nicht nur das, der Tänzer Hudson Oliveira ist in seiner jugendlichen Natürlichkeit eben alles andere als ein glitzernder Traumprinz, sondern vor allem in seiner sensiblen Schüchternheit ein liebenswerter junger Mann. Und so beginnt für Stefaia Mancini als Clara vielleicht weit mehr als eine märchenhafte Traumreise, in der sie zum einen ihrer familiären Einsamkeit und Unverstandenheit entflieht, zum anderen sich anschickt von der Kindheit Abschied zu nehmen, um fortan auch mit den Hoffnungen und selbstverständlichen Enttäuschungen eines jungen Mädchens und später einer jungen Frau zu leben. Da hilft das Träumen erst einmal. Das Erwachen kommt früh genug.

Jetzt tanzen erst einmal die Schneeflocken und der liebenswerte junge Mann zieht Clara auf dem Schlitten durch ein Winterwunderland ins Reich der Zuckerfee. Sie schenkt den beiden jungen Leuten ausgerechnet ein iPad, als wollte sie ihnen klar machen, dass ihre Fantasie ja ohnehin nicht ausreichen würde, sich noch selbständig Dinge vorzustellen, die über den Bereich der Erfahrungen des Alltags hinausgehen. Schade eigentlich, denn so wie man dieses Paar tänzerisch erlebt, machen sich solche modischen Zutaten eigentlich überflüssig.

Wenn die spanischen, arabischen, chinesischen und russischen Divertissements von den Mitgliedern des bestens aufgestellten Thüringer Staatsballetts so herrlich getanzt werden, dann gibt es wieder störende Beigaben, einen fliegenden Teppich, natürlich Fahrräder für die Chinesen, Matrjoschkas für die Russen. Alles unnötig, lediglich dekorativ, vor allem, wenn Luis Piva, Kristian Matia und Vitali Petrov dermaßen sprungtechnisch überzeugen, als seien sie kurz mal vom russischen Moissejew-Ballett vorbei gekommen. Und mehr als ein bisschen niedlich dürfen dann die hinzu erfundenen Krümelmonster im Blumenwalzer auch nicht sein, in dem die Herren der Kompanie in den Kostümen von Gera Graf in die Nähe ihrer Kollegen des Trockadero Ballet gerückt werden, ohne aber auch nur choreografisch ansatzweise etwas vom parodistischen Humor dieser besonderen Art zu vermitteln. Da bleibt die Choreografie einfach zu brav.

Bei allem ist es aber wunderbar gelungen, nicht zuletzt dank der so individuellen wie tänzerischen und darstellerischen Glaubwürdigkeit des jungen Paares, mitzuerleben, wie diese Clara eben in einem Traum erlebt, was ihr im Leben noch bevorstehen könnte oder eben auch nicht: das erste Glück der großen Liebe. Schade, dass im Pas deux, als tänzerischem Mittel der Grenzüberschreitung, die Variationen gestrichen sind. Man hätte gerne Stefania Mancini und Hudson Olivera in jenen künstlerischen Varianten der Freiheit des Tanzes mit seinen Sprüngen und Pirouetten erlebt, die allen Schneeflocken und Mäuschenzauber vergessen lassen, weil es eben nur noch auf diese beiden Menschen ankommt in ihren so rasch vergänglichen Momenten tänzerischer Freiheit.

Dann kommt es in Birgit Scherzers Choreografie zu einem wahrhaft großen Moment. Der Traum ist aus. Das Erwachen. Der Nussknacker ist ein Ding aus Holz. Clara ist ein einsames Mädchen, kein Kind mehr, noch keine Frau, nur ganz allein in einer künstlichen Kaufhaus-Winter-Weihnachtslandschaft des Ausverkaufs der Träume. Das wäre ein Schluss gewesen: Tschaikowskis geniale Musik seines letzten Balletts (kreiert ein Jahr bevor er starb) mit ihren Walzern einsamer Seelen und den wunderbaren Vokalisten des Fernchores junger Mädchenstimmen, deren Sängerinnen eben nicht wie aufgereihte Kaufhausweihnachtsbäume auf die Bühne gestellt werden müssen wie in Gera, gäbe das her. Doch es gibt ein Finale grande, alle sind nochmal auf der Bühne. Zum Glück kann diese Masse die Berührung durch die beiden jungen Menschen nicht ganz vergessen machen, besonders nicht diesen Moment der Einsamkeit, wenn Clara erwacht. Und wer weiß, vielleicht ist sie gar nicht ganz einsam, denn Tschaikowski könnte bei ihr sein.

 

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