„Kreatur“ von Sasha Waltz.

„Kreatur“ von Sasha Waltz.

Schaumgeborene

Sasha Waltz mit der Uraufführung „Kreatur“ im Radialsystem

Eine vielschichtige Beziehungsanalyse und Zeitkommentar in stilisierter Form.

Berlin, 13/06/2017

Es ist ein Abend, in dem Sasha Waltz so recht zeigen kann, wo sie künstlerisch zu Hause ist und wo ihre Stärken liegen. Nach einem Jahrzehnt interdisziplinärer Arbeit im Opernbereich legt sie eine Uraufführung im Radialsystem V als ihrer angestammten Spielstätte vor. „Kreatur“ ist Zeitkommentar in stilisierter Form, der pausenfreie 100 Minuten teils süffisant nachforscht, wie es um die zwischenmenschlichen Beziehungen bestellt ist. Am Anfang steht die Geburt noch Unschuldiger. Vor lichtem Hintergrund erscheinen sie nacheinander fast nackt in weißen Hüllen wie aus Zuckerwatte: Schaumgeborene. Laute entringen sich den Kokons. Jemand wirft die Weißwolke ab, kriecht beim anderen unter. In diesem Frühstadium, dem zart bewegten Kosmos ist noch Solidarität, auch im Schutz durch Umklammern. Dann halten riesige Folien den Geschlüpften ihr eigenes Bild vor, verzerrt, vergrößert, verdoppelt, hüllen sie isolierend ein.

In der nächsten Szene dieser linearen Bilderfolge tragen die 14 Tänzerinnen und Tänzer archaische Kleidchen, Schurze oder Röcke, gestuft und transparent. Noch schmiegen sie sich als Pulk zusammen, tasten sich durch den Raum, zyklisch anhaltend, als stoppe die treibende Fernsteuerung. Und schon boxen zwei Frauen, teilt sich die erregte Masse in Gruppen auf, reagiert auf akustische Hammerschläge. Einer gerät in Gefangenschaft zwischen Leibern, eine Frau steigt neugierig weiße Stufen am Bühnenrand empor, die auf einem schmalen Plateau enden; die andern drängen ängstlich nach, versperren ihr den Rückweg: Eine ausweglose Situation. Einer stürzt ab, einige flüchten über die Rückwand.

Dann beginnt ein neues, rüdes Abenteuer. Was zitternd synchron Ausdruck gleichen Wollens ist, Ausbrechende in die Hebung und den Transport treibt, erhält eine Wendung durch das Auftauchen einer weißen Stange, die dem jeweiligen Besitzer Macht leiht. Laute fügen sich zum französisch geflüsterten, bald von allen skandierten Chorus, das Leben sei fantastisch. Der Stock steht als Totem, auf dem wie gepfählt ein Mann schwebt. Das gebiert eine Hierarchie: Mit schneidender Stimme kommandiert eine Frau eine andere, treibt und traktiert sie, während die Menge in gespenstischer Untätigkeit verharrt und die Fluchten der Malträtierten vereitelt. Als ohnmächtig gedrängter Haufen schiebt sie sich wankend zum Zuschauer vor, gleichermaßen Gewalt und Hilflosigkeit in sich bergend.

Da erscheint die Kommandeuse schwarz verhüllt und rundum mit metallenen Stacheln bewehrt, eine unangreifbare Festung des Widerstands gegen Aufmucker. Mit ihrem Igelpanzer attackiert sie die Menschen, stichelt und stachelt sie zu Boden, hält sie in Schach, spießt Frauen an den Haaren auf und drängt sich wie eine Kampfmaschine durch die Wand aus Leibern. In der Elektro-Collage von Soundwalk Collective meint man hierzu Fetzen des orientalischen Tanzes aus dem „Nussknacker“ zu vernehmen. Ein Mann wagt umschlungen das Duett mit dem Ungeheuer, bis jemand den Mut findet, der Schwarzen den Kopf abzureißen. Ihr Bann ist gebrochen, Gewalt kann nicht auf Dauer siegen, ihr dunkles Trikot streift sie indes nicht ganz ab.

Im Schlussbild flackert Liebe auf. Beigefarbene Kostümteile tragen die Menschen da zu meist bloßem Oberkörper. Mein Herz ist leer, singt ein Liebeslied, sagen sie zu Hundegebell, zum Rattern eines Zuges. Ratlosigkeit greift um sich, auch in Dramaturgie und Choreografie. Zwar drapiert Sasha Waltz die Tänzer eindrucksvoll in plastische Posen, als seien sie sich verändernde Kunstwerke in Bodenlage. Zwar erkunden sie zu Paaren ihre Körper, betasten den Anderen, klopfen ihn ab, treten auch mal zu, schlagen sich klatschend auf die Haut. Eine Frau zieht die andere am Haar als Hund mit sich; zwei Männer vereinen sich zehrend im Kuss; einer birgt die Brüste der Partnerin in der Hand, ein anderer bohrt geräuschvoll seine Frau an, ein nächster küsst ihr den nackten Po. Die Stange schiebt sich immer wieder in das Geschehen, die Treppe löst sich von der weißen Rückwand, wird vollends zum Aufstieg ins Nirgendwo. Auch die Folien finden wieder Einsatz. Über alldem haucht ein einst skandalöser französischer Coitussong schwül rünstig sein „Je t'aime“.

Über diesem Bild des Stillstands erlischt das Licht, entlässt den Zuschauer in seine eigene Deutung einer vielschichtigen Beziehungsanalyse, deren Metaphern oft treffen, die jedoch etwas langatmig schließt. An Iris van Herpens Kostümen hat man ebenso Freude wie an den Bewegungseinfällen, der Raumnutzung und der teils langbewährten Crew von Sasha Waltz & Guests.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge