Unter dem Wert geschlagen?

Viele Fragen zum Gastspiel des Norwegischen Nationalballetts in Wien

Der Intendant des Theater an der Wien, Roland Geyer, zollt dem Tanz einmal pro Saison Tribut. Diesmal begleitete ein durchwegs begeistertes Publikum die zwei Programme mit sechs Vorstellungen des klassischen Ensembles aus Oslo.

Wien, 11/04/2017

Wann hat es in Wien zuletzt ein Gastspiel eines klassischen Hauptstadt-Balletts mit zwei Programmen und sechs Vorstellungen gegeben? So rasch fällt einem da nichts ein, abgesehen davon, dass die regelmäßige Kuratierung großer klassischer und neoklassischer Ensembles im Rahmen der Wiener Festwochen seit vielen Jahren leider abhanden gekommen ist.

Also darf man dem Intendanten Roland Geyer, der das Theater an der Wien vor allem mit historischen und zeitgenössischen Opernwerken in überwiegend zeitgemäßer Lesart bespielt, zunächst Rosen streuen. Einmal pro Saison zollt er dem Tanz Tribut, das Hamburg Ballett ist sein Hauptadressat, Neumeier hat an diesem Haus auch schon Premieren herausgebracht. Dieses Jahr ist Hamburg-Pause, ehe Neumeier 2018 mit Tschechows „Möwe“ wiederkehrt. (Leider wieder nicht mit einem seiner Hauptwerke „Nijinsky“.) Statt Norddeutschland stand nun also Norwegen zur Diskussion. Und ein durchwegs begeistertes Publikum begleitete das mehr als 50 Mitglieder zählende Nationalballett aus Oslo, das seit 2012 von der ehemaligen Solotänzerin Ingrid Lorentzen geführt und in etlichen Gastspielen bekannt gemacht wird.

Wien kannte bisher vor allem den norwegischen Choreografen Jo Strømgren, der vor gut fünfzehn Jahren mit dem Staatsballett an der Volksoper einen ungewöhnlichen „Nussknacker“ inszenierte. Auch mit dem Osloer Nationalballett hat Strømgren als Hauschoreograf zu tun wie ebendort einige andere bekanntere Choreografen, die die Spielpläne international bestimmen: Jiří Kylián, Paul Lightfoot und Sol León, Alexander Ekman. Das Repertoire betrachtend, ist zunächst verständlich, dass man auf Gastspielen Werke zeigt, die für das Ensemble geschaffen worden sind. Aus dieser Überlegung heraus kann man Geyers Programm-Entscheidung noch folgen, der für sein Osterklang-Festival einen Tanz-Schwerpunkt ergänzt mit dem Kabarett „Höllentanz“ und einem Soloabend der Mezzosopranistin Elisabeth Kulman sowie drei Konzerten mit Tanz-Bezug.

Der Kern dieser Programmierung aber wurde offenbar ausschließlich nach inhaltlicher Ausrichtung zusammengestellt: „Verständliche“ Handlungsballette letztlich traditioneller Machart. Im aktuellen Fall „Gespenster“ nach Ibsen (weil Ibsen-Schwerpunkt an der Wien) und „Carmen“, beide jeweils abendfüllend. Die Inhalte also zuerst, erst danach scheint die Frage nach einer originären choreografischen Handschrift gestellt zu werden. Wäre Frage zwei mit Frage eins getauscht worden, hätte man sich eine dritte Frage stellen müssen: Ist das Norwegische Nationalballett nicht unter seinem Wert geschlagen, wenn es aus überregionaler Sicht angestaubtes Ballett-Theater und in der Tat eine in jeder Hinsicht altmodische Inszenierung des jungen englischen, an sich interessanten Choreografen Liam Scarlett präsentiert? Gerne räumt man nochmals ein, dass beide Werke für die Osloer kreiert worden sind und der Zuschauer somit zwei Auftragswerke der Ära Lorentzen sieht, die für eine ästhetisch sehr breite Repertoire-Gestaltung stehen.

Die Produktion der „Gespenster“ wurde in einer Kollaboration der Choreografin Cina Espejord mit der Regisseurin Marit Moum Aune entworfen. Sie verweist vor allem auf ein eklektizistisches Umgehen mit einem klassisch grundierten Vokabular, das von Modern Dance-Elementen durchsetzt ist. Insgesamt erinnert das Zusammenfügen von aalglatten Tanzschablonen aus unterschiedlichen Feldern an die Tanzmoderne der 80er Jahre: stilpluralistisches Arbeiten mit schauspielerischen Akzenten vor einer wie Filmmusik klingenden Zuspielung von Nils Petter Molvaer. Reizvoll daran ist am ehesten die Aufsplitterung der tragenden Rollen in verschiedene Lebensalter. In der siebzigminütigen Präsentation der fatalen Familien-Tragödie um patriarchale Zustände, religiös bestimmte Machtausübung, Unterdrückung und Krankheit macht man die Bekanntschaft mit einer ausdrucksstarken Tänzerschaft: Andreas Heise als Osvald Alving, Camilla Spidsoe als Helene, Sonia Vinograd als junge Helene, Grete Sofie Borud Nybakken als Regine und die beiden Kinder (aus der Ballettschule) Kristoffer Ask Haglund als Klein Osvald und Erle Ostraat als Klein Regine. In einem breit gefächerten Repertoire in Oslo mag diese Inszenierung durchaus ihren Stellenwert haben.

Ganz anders dann das dreiaktige ausführlich angelegte Handlungsballett, das Liam Scarlett, der sich bereits einen Namen gemacht hat, entworfen hat. Wenn man davon ausgeht, dass es sich um ein Auftragswerk handelt, waren vielleicht die Vorgaben jene, dass ein gut funktionierendes, großes Publikum ansprechendes Stück entstehen sollte. Herausgekommen ist in diesem Fall ein Werk, pardon, das jetzt bereits älter wirkt als die Werke von Scarletts künstlerischem Großvater Kenneth MacMillan. Scarlett gehört dem Royal Ballet an und hat dort zuletzt etwa mit der ansprechenden Uraufführung „Frankenstein“ von sich reden gemacht. Seine „Carmen“ für Oslo ist da eindeutig das schwächere Stück, Bauweise und Figurenführung kennt man aus zahlreichen großen Werken, die Inszenierungsweise ist vorhersehbar, die Erfindungsgabe für Gruppe und Solisten wirkt wie an Vorbildern orientiert, funktioniert aber durchaus effektvoll. Über die Vorgangsweise aus zu wenig Original-Musik (Bizet) mit sorgsamen Ergänzungen und neuen Arrangements eine dreistündige musikalische Folie vorzulegen, lässt sich natürlich prinzipiell streiten. Komponist Martin Yates umspielt die bekannten Bizet-Nummern mit gefühliger Fülle. Bruchlos also wird die Adaption vom Wiener KammerOrchester unter Per Kristian Skalstad nach anfänglichem Zögern wirkungsvoll musiziert.

Das Osloer Nationalballett präsentierte „Carmen“ mit zwei Besetzungen: Julie Gardette und Kaloyan Boyadijev als Don José sowie Yolanda Correa und Yoel Carreno. Und gefällt da vor allem mit seiner Spielfreude. Die Tanztechnik wird als Gestaltungsmittel und nicht als Selbstzweck verstanden. Dass offenbar beide Werke in Wien geprobt wurden, auch Scarlett war anwesend, zeugt von der Ernsthaftigkeit des Unterfangens. Die Frage nach der Auswahl der Stücke bleibt allerdings offen. (Wenige Tage davor gastierte das Ballett im Pariser Théâtre des Champs Elysées und hatte Ekmans frisch ersonnenen „Schwanensee“ mit.)

P.S.: Das Gebot der (Wiener) Stunde hieße jetzt eigentlich, das American Ballet Theatre mit Alexei Ratmanskys im März von Kritik und Publikum begeistert aufgenommener Rehabilitierung des in Wien 1924 uraufgeführten Richard Strauss-Balletts „Schlagobers“ einzuladen.

 

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