„Totentanz II (1926)" von Mary Wigman; Rekonstruktion Henrietta Horn. Tanz: Ensemble.

„Totentanz II (1926)" von Mary Wigman; Rekonstruktion Henrietta Horn. Tanz: Ensemble.

Tanz als bewegte Musik

Von Wigman bis Goecke und de Candia: „Danse macabre“ in Osnabrück

„So geht freier Tanz heute!“ möchte man der selbst ernannten „Priesterin des Tanzes“ Mary Wigman zurufen, die so viel wagte, aber aus heutiger Sicht so wenig ahnte von den Möglichkeiten „der Bewegung aller Dinge“.

Osnabrück, 12/02/2017

Die Dance Company Osnabrück nimmt das Angebot der Kulturstiftung des Bundes „Tanzfonds Erbe“ gern wahr und sehr ernst. Mit Patricia Stöckemann als Projektleiterin wird Wigmans Werk beispielhaft von einem Team um Henrietta Horn rekonstruiert und einstudiert und aktuellen Choreografien gegenübergestellt. Das Programm „Sacre“ begann 2013 mit Wigmans Strawinsky-Choreografie von 1957, gefolgt von abstrakten Kurzchoreografien des damaligen Bielefelder Kooperationspartners Gregor Zöllig und Osnabrücks damals noch gerade neuem Osnabrücker Tanzchef Mauro de Candia. Jetzt stehen neben Wigmans Totentänzen von 1917/21 und 1926 Kreationen von Marco Goecke und de Candia.

Seit 1910 tastete sich Wigman an einen freien Tanzstil heran. Einer der ersten Versuche war ihr Quartett auf Camille Saint-Saëns' Klavierstück „Danse macabre“ aus dem Zyklus „Tänze der Nacht“. Sie selbst, Yvonne Georgi, Gret Palucca und Berthe Trümpy tanzten die vier vermummten, wie putzige Kobolde mit spitzen grauen Hüten und bunten Gewändern hüpfenden Gestalten in der revidierten Dresdener Fassung von 1921, die sehr genau musikalische Rhythmen und Akzente spiegelt. In Osnabrück alternieren die vier Tänzerinnen der Premiere mit vier Tänzern.

Im Felix-Nussbaum-Haus sind als Teil der umfangreichen Rahmenveranstaltungen zum Thema „Totentanz“ auch die Grafiken zu sehen, die Ernst Ludwig Kirchner während Wigmans Proben zu ihrem „Totentanz II“ in Dresden skizzierte. Wesentlich eindrucksvoller, weil schon wirklich expressionistischer Ausdruckstanz und mit eigens komponierter Musik für Schlagzeug, kommt diese Gruppenszene von 1926 über. Frank Lorenz traktiert die Instrumentengruppe in eigener Komposition nach Ideen von Wigmans musikalischem Begleiter Will Götze.

Der Dämon (bei der Premiere Jayson Syrette) in grünem faltenreichen Gewand, das nur das maskierte Gesicht, die Hände und die nackten Füße frei lässt, zeigt seine Macht über Menschenleben und Totenreich mit ausladender Gestik, weiten Sprüngen und Schritten. Sechs Lemuren bilden sein Gefolge. Vorn kauert eine „weibliche Gestalt“ (Marine Sanchez Egasse), die um ihr Leben bangt und bettelt. „Der Tod und das Mädchen“ ist thematisch nicht weit, aber auch Kurt Jooss' „Grüner Tisch“ natürlich und stilistisch Harald Kreutzbergs unvergessliche Solo-Auftritte.

Mit amerikanischen Saxofonklängen und Jazzgesang untermalt Marco Goecke „Supernova“ - ein Stück über das Verglühen eines Sterns. Wenn die Streichhölzer in den Händen der Tänzer verglimmt sind, bleibt dunkelgrauer ‚Qualm’ - wie Puderquasten oder aufgeplusterte Pfauenfedern auf ihren Köpfen - übrig, bis der Raum völlig dunkel ist. Der fast 25-minütige ‚Todeskampf’, der vorausgeht, zeigt ein so blitzartiges Zappeln, Flirren, Zucken, Gucken und Rucken, wie es eigentlich allenfalls ein zu Tode getroffener Tausendfüßler vollführen kann.

„Supernova“, 2009 uraufgeführt, ist eins dieser faszinierenden, unterhaltsamen Muskel- und Gliederspielchen von Goecke, die heutige Tänzer immer wieder vor größte physische Herausforderungen stellen und ihnen schier unmenschliche Konzentration, Koordination und Präzision jeglichen Körperteilchens abverlangen - und ihnen wie den Zuschauern unglaublich viel Spaß machen. „So geht freier Tanz heute!“ möchte man der selbst ernannten „Priesterin des Tanzes“ zurufen, die so viel wagte, aber aus heutiger Sicht so wenig ahnte von den Möglichkeiten „der Bewegung aller Dinge“. Osnabrücks Ensemble gibt alles - mehr als je zuvor.

Das trifft auch auf die den Abend beschließende Uraufführung von Mauro de Candias „Sacre“ zu. Dass diese Choreografie nicht schon vor vier Jahren als zeitgenössisches Pendant zu Wigmans Fassung auf dem Programm stand, lässt sich leicht damit erklären, dass weder der Italiener damals als Choreograf noch seine Kompanie tänzerisch schon so reif wie heute war. De Candias Interpretation des so vielfältig aufgeführten einstigen Skandalstücks verblüfft durch die fast völlige Abstraktion und durch die Nähe zur Musik. Aber in keinem Moment, wenn Bewegung und Musik sich doppeln oder gerade gegenläufig begegnen, kommt das Gefühl auf, hier werde Musik illustriert. De Candia hat schon mehrfach, insbesondere mit der 1. Sinfonie von Brahms, bewiesen, dass er ein besonderes Gespür für das Zusammenspiel von Klang und Bewegung hat. Mit „Sacre“ erreicht er einen weiteren Höhepunkt seiner künstlerischen Reife.

Optisch ist diese Einstudierung von nobelster Ästhetik. Die Bewegungssprache zitiert mit größtem Feingefühl den Ausdruckstanz ebenso wie antike Marmorskulpturen und zeitgenössisches Bewegungsvokabular. In blendend weiße Ganzkörpertrikots von den Zehenspitzen bis über die Frisuren sind die Tänzer gehüllt. Posen und Gruppierungen, meist in slow motion, entsprechen dem archaischen Gehalt der russischen Frühlingslegende. Eine vornehmere Hommage an Mary Wigman ist kaum vorstellbar.

 

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