„TEXT NECK“ von Moritz Ostruschnjak 

„TEXT NECK“ von Moritz Ostruschnjak 

Eine magische Stunde

Moritz Ostruschnjak im Schwere Reiter München

Im digitalen (N)Irgendwo: Die Performance „TEXT NECK“ hinterfragt zu Musik von 48nord soziale Interaktionen im 21. Jahrhundert und liefert damit das tänzerische Abbild einer digital verwirrten Gesellschaft.

München, 10/12/2016

Eine riesige weiße Plastikplane ist im Saal ausgelegt, sie spiegelt das Weiß der Wände und der Decke. Ein großer Würfel ist entstanden und eröffnet neuen Raum, der digitales (N)Irgendwo sein kann. Auf der linken Bühnenseite ist die Musikkombo 48nord positioniert, bestehend aus drei Männern: Ulrich Müller, Siegfried Rössert und Patrick Schimanski. Vor ihnen sitzen drei Tänzer: Anna Fontanet, Alexis Jestin und Isaac Spencer. Sie alle haben ein Puzzleteil im Gesicht, welches an der Nase klemmt und den Mund bedeckt. Darauf zu sehen sind Münder: Lachende, verzogene, schmollende. Die Sechs können die aufeinander liegenden Bildteile entfernen und die darunter zum Vorschein kommenden, neuen offenlegen. Sie tragen allesamt eine Maske und stellen, ins Digitale übersetzt, Profilbilder von Menschen dar. Ein Selfie muss sitzen, gut aussehen - auch wenn man sich dafür verrenkt. Diese Münder passen nicht zu ihren Gesichtern, genauso wenig wie die präzisen Bewegungen, die die Tänzer ausführen, zu einem menschlichen Körper passen. Stakkatoartig, abgehackt sind sie, wie der Tanz eines Roboters. Mit den Handflächen unnatürlich verbogen und dem Becken noch schlimmer verschoben, als es manche Models können, beginnt Anna Fontanet sich zu bewegen. Die beiden männlichen Tänzer haben da die Tanzfläche schon verlassen, um ihr diese zu gewähren.

Sie wechseln sich ab, erzählen nacheinander Geschichten, alleine. Beispielsweise die Geschichte vom Spazierengehen, das nicht mehr so wirklich funktioniert, da man pausenlos auf das Handy gucken muss, bis sich diese Bewegung, der TEXT NECK (stets nach unten blickend, alles übersehend, nichts wahrnehmend) so manifestiert, dass er in einem Spasmus gipfelt. Oder in der Disko, wenn man tanzen will, doch aufpassen muss, wie man tanzt. Denn es guckt immer jemand zu. Und man tut alles für den Like, den digitalen Auftritt. Das Leben in Bits und Bytes ist heutzutage das wichtigere. Selbstdarstellungssucht und Narzissmus sind in der Gesellschaft vermehrt festzustellen, alle sind auf ihren eigenen Vorteil, ihr Schaffen und ihr Wirken begrenzt, so die Botschaft.

Begleitet werden diese Szenen von 48nord, die einzelne Töne und Sounds produzieren, die verpuffen und störend wirken und von Lichtspielen begleitet werden, die nur Lichtspiele sind. Sie gehen allesamt auf den Wandel und die Unnatürlichkeit der Gesellschaft ein, die durch digitale Medien und vor allem soziale Netzwerke, entstanden sind. Dargestellt wird der Narzissmus, der Egozentrismus, durch die Auf- und Abtritte der einzelnen Tänzer, jeder hat die Bühne für sich allein. Die Selbstdarstellung, das ständige Kreisen um sich selbst, findet kurze Erlösung und Pause in flüchtigen Momenten, in denen man die digitale Welt verlässt und kurz im echten vorbei schaut. Wenn man vergisst, dass man posieren, lächeln, oder gut aussehen muss. Dann passiert was Schönes, dann ist alles organisch und rhythmisch und farbenfroh. Zuerst nur für den Tänzer Alexis Jestin, der, wie unbeobachtet, tanzt, etwas trinkt, lächelt. Im Einklang mit der elektronischen Musik von 48nord und dem Licht von Tanja Rühl, die vorher noch bruchstückhafte Sequenzen von Sounds, verzerrten Wortfetzen und Farbakzenten in den Raum fließen ließen, ergibt sich nun ein menschlicher Augenblick. Oder ist er doch komplett fingiert und von einem Video abgeguckt, Selbstdarstellung par excellence? Die Tänzer bewegen sich weiter aneinander vorbei, selbst als sie irgendwann zusammen auf der Bühne tanzen. Der Augenblick war eben nur ein Augenblick.

Es dauert noch eine Weile, bis sich im dritten Teil von „TEXT NECK“ Licht, Musik und Tanz überlagern und ein glanzvolles Zusammenspiel von allen ergeben. Die Tänzer reagieren auf die Musik, die Musik auf das Licht, das Licht auf die Tänzer, ein Reigen der Empathie. Die Tänzer kreisen immer noch, doch nun gemeinsam und die gesamte Bühnenfläche einnehmend. Es entstehen Energien. Ist es etwas Romantisches, Aggressives, Böses, Schönes, das sie antreibt? Das ist egal, es geht darum, dass sie etwas zusammen erschaffen und sich aus den Rollen befreien, die sie im und für das Netz erschaffen haben.

„TEXT NECK“ steigert sich kontinuierlich und immer in den genau richtigen Momenten, bevor sich Langeweile einstellen kann, findet ein Bruch statt. Ostruschnjak hat ein tänzerisches Abbild einer digital verwirrten Gesellschaft geliefert. Am Ende stellt sich eine organische Verbindung ein, getragen von künstlerischem Talent außerhalb der digitalen Welt, geschehen durch Körperbeherrschung und feine Absprachen. Die Musik geht aus, eine kurze und sehr magische Stunde ist vorüber.
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