Berauschte Sommerpause

Pick bloggt über „Romeo und Julia“ am Stuttgarter Ballett

Nach einem Besuch der „Romeo und Julia“-Vorstellung im Rahmen der Stuttgarter Festwoche „20 Jahre Intendanz Reid Anderson“ werden Erinnerungen der letzten 40 Jahre an sämtliche Versionen des berühmten Balletts wach.

Stuttgart, 05/09/2016

Nachdem ich bei der Stuttgarter Festwoche zwei Vorstellungen gesehen hatte, in denen der Nachwuchs choreografisch gefeiert wurde, und ich nebenbei die Besetzung für „Romeo und Julia“ las, wollte ich mir dieses Stück, das Crankos Weltruhm endgültig gemacht hatte, nochmal zu Gemüte führen. Und das, obwohl ich die Urbesetzung mit Marcia und Ray Barra gesehen habe und die nächste mit dem unvergessenen Ricky Cragun und dem genialen Mercutio von Egon Madsen, aber auch die vielfach unterschätzte Anita Cardus, sowie die erste Ernte der neuen Schule mit Birgit Keil, Susanne Hanke und, wenn auch nicht in der Titelrolle, Johannes Kritzinger – ein denkwürdiger Charakter. Dann gab es noch Max Midinet, erst als Schüler, später Neumeiers Romeo in Frankfurt und nicht zu vergessen Tamas Detrich, der ein Romeo wie aus dem Bilderbuch war.

In der Bayerischen Staatsoper war ich bei der Premiere mit Heinz Bosl und Konstanze Vernon im in jeder Weise vergrößerten und kostbaren Bühnenbild, das Jürgen Rose spontanen Applaus einbrachte, als sich damals der Vorhang zum Ball-Bild öffnete. Das Gegenteil davon war Ashtons Version für das Kopenhagener Ballett mit Kirsten Simone und Henning Kronstam in den Hauptrollen, die ebenfalls die Vorstellung zum Stillstand brachten. Es gab damals nämlich keinen Schlussapplaus, es sei denn ein Mitglied der Königsfamilie war anwesend und applaudierte von der Mittelloge, aber auch nicht länger. (Ich habe das in Kopenhagen nur einmal erlebt, als ich von Vera Volkova zu einer Gala eingeladen war, ansonsten blieb die Loge leer und man verließ das Opernhaus frustriert, wie nach einem Kinobesuch.)

Sehr imponiert hat mir die russische Urfassung zu Prokofievs Musik in der Choreografie von Leonid Lawrowsky, die in Petersburg seit 1940 immer noch im Repertoire ist. Das Ball-Bild ist hier ein großes Gelage an riesigen Tischen. Nur die Protagonisten kommen zusammen und tanzen, während die anderen Gäste (wie heute noch bei solchen Gelegenheiten) sich von den sich biegenden Tischen den Bauch vollschlagen, Champansky und Wodka tanken und dabei unzählige „Malinki Toasts“ auf die Gäste ausbringen.

Warum ich mich eigentlich nicht allzu sehr für „Romeo und Julia“ interessiere, hat einen anderen Grund: in Kanada hatten wir im Nationalballett die Cranko/Rose-Einstudierung als erstes auswärtiges Ensemble im Repertoire und ich erinnere mich sehr gut an die nicht ungefährliche Kampfszene (mal brach einer der Degen im ersten Bild, der glücklicherweise im Off landete) und die scheinbar endlose Tanzszene mit dem „King of Carnival“ nach der Pause, das einen ganz schön außer Atem brachte, aber eben deswegen so beliebt beim Publikum ist.

Nicht nur wegen des Kissentanzes, einer genialen Idee von Cranko zu dieser berauschenden Musik, wollte ich die Stuttgarter Variante sehen, sondern vor allem wegen zweier von mir höchst geschätzten Protagonisten: Alicia Amatriain, die die lyrischste Spitzentechnik hat und aus einer deutschen Schule, nämlich Stuttgart, hervorgegangen ist und den Traumprinzen Friedemann Vogel, der ebenfalls ein Produkt dieser Schule ist. Seit dem jungen Heinz Claus ist er der einzige Deutsche, der diese Noblesse ausstrahlt. Beide sind ja keine Kinder mehr, die sich zum ersten Mal Hals über Kopf verlieben. Trotzdem bringen sie eine Unschuld auf die Bühne, die selten ist.

Alicia macht außerdem diese verzwickte Entwicklung eines fröhlichen Mädchens überzeugend durch, das zur jungen Frau wird, die die kurze Zeit des Verliebt Seins himmelhochjauchzend durchlebt bis zum tragischen Ende. Bei Friedemann Vogel sieht die Sache anders aus. Er ist ein fast unbedarfter junger, offensichtlich von der Natur und auch sonst verwöhnter Kerl, der nur mit der Hand zu schnipsen braucht und alles klappt, wie er es gern hätte. Auch er durchlebt sichtbar das Drama, aber es verändert ihn nicht, er bleibt der Unberührbare. In dieser Partnerschaft mit Alicia funktioniert das hervorragend, denn sie ist für ihn eine wertvolle Zugabe, ein edler Schmuck, den er opferbereit liebt.

Ob man ihm zutraut, dass er sich umbringen würde? Er zeigt es nicht und doch tut er es, es bleibt ihm kein Ausweg. Sein Romeo ist kein typischer Italiener, der vor Gefühlen platzt, aber wir Germanen haben es halt nicht so damit, es sei denn wir werden sentimental wie in „unserer Romantik“. Die wurde aber erst viel später erfunden. Auch mit weniger ausgespielter Emotion funktioniert Shakespeare, aber ich denke, es bleibt die Ausnahme, die nur für diese beiden gilt und diese beiden Ausnahme-Tänzer überzeugen obendrein durch die makellose nebenbei abgelieferte Technik.

Ich bin Friedemann das erste Mal begegnet in Kazan, hinter Moskau, wo die Tartaren auch ein sehr gutes Nationalballett haben, als er mit Maria Eichwald in „Giselle“ gastierten sollte. Aber am Tag vor der Vorstellung verletzte sich die sonst so zuverlässige Ballerina und so musste Friedemann, das war vor etwa zehn Jahren, mit einer Verständigungsprobe mit der dortigen Primaballerina tanzen, die vom Aussehen seine Mutter hätte sein können. Und dieser geborene Prinz, der sich seitdem scheinbar nicht verändert hat, meisterte diese Primaballerina, von der ich den komplizierten Namen nicht erinnere. Sie hatte die Gabe, sich diesem Wunderknaben anzuvertrauen, ganz hinzugeben und war, ähnlich wie Fonteyn bei Nurejew verjüngt, bestens aufgehoben. Ich glaube, es war für beide, wie für mich, ein ziemlich einzigartiges Erlebnis.

Noch ein Wort zu den beiden oben erwähnten Nachwuchschoreografie-Vorstellungen, über die andere zeitnah berichtet haben und höchst beeindruckend ob der großen Vielfalt waren. Auch da haben die beiden Protagonisten mich voll überzeugt in zeitgenössischen Choreografien, besonders Friedemann in einem Solo, das von Marco Goecke stammt und ich gebe zu, dass ich ihm das nicht zugetraut hatte. Chapeau! Und nach diesen drei Abenden, so unterschiedlich sie auch waren, war mein Bedarf für einige Zeit gedeckt, vor allem weil ich in kurzem Abstand vorher schon mehrere Galas besucht hatte. So habe ich dann den Abschluss der Festwoche geschwänzt. Aber ich bin sicher, dass ich auch diesen nach vier Stunden berauscht überlebt hätte.

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