„Tenir le Temps“ von Rachid Ouramdane

„Tenir le Temps“ von Rachid Ouramdane

Von der Bedeutsamkeit des Innehaltens

Sommerfestival auf Kammnagel: Rachid Ouramdane mit „Tenir le Temps“

Nein, die Zeit lässt sich nicht festhalten. Aber wir können uns immer wieder bewusst machen, wie wichtig es ist, nicht einer sinnlosen Hektik hinterher zu hecheln. Damit ging das Sommerfestival zu Ende – ein schöner und zukunftsweisender Abschluss.

Hamburg, 01/09/2016

In unserer Zeit muss alles immer schnell gehen, Hektik dominiert unseren Alltag auf allen Ebenen. Den Tänzer und Choreografen Rachid Ouramdane, Sohn algerischer Einwanderer in Frankreich, hat das so beschäftigt, dass er daraus ein Tanzstück gemacht hat: „Tenir le Temps“ – die Zeit festhalten. Natürlich geht das nicht, und deshalb sind die knapp 60 Minuten, die das Werk dauert, eine Studie über die Atemlosigkeit unseres Lebens.

Das Stück beginnt mit einem einzelnen Tänzer in einer weiß ausgeschlagenen Bühne – weißer Tanzboden, weiße Wände, weißer Hintergrund. Der Mann fängt an zu zucken und sich zu schütteln, und je mehr er das tut, desto mehr drängen die 14 weiteren Tänzerinnen und Tänzer des Centre Choréographique National de Grenoble auf die Bühne. Sie gesellen sich zu ihm, zu immer neuen Arrangements, zu zweit, zu dritt, zu mehreren. Ouramdane verwebt die Menschen in Bewegung zu ständig neuen Formationen. Wellenförmig bewegen sie sich miteinander, nebeneinander, umeinander zu Kurven, Diagonalen und Geraden. Nur kurz halten sie inne, dann rennen sie wieder, in nur scheinbarem Chaos, das sich zu flüchtigen symmetrischen Formationen ordnet.

Der Klangteppich dazu ist ähnlich hektisch, hämmernde Minimal Music von Jean-Baptiste Julien. Zweimal hält die Musik plötzlich inne, die Tänzer – in schlichten Shirts und Hosen in Olivgrün bis Braun (Kostümdesign: La Bourette) – verschwinden, die Bühne verdunkelt sich, und für einen kurzen Moment findet sich Ruhe. Aber dann setzt die Hektik von neuem ein mit ihrem Laufen und Rennen und ihren ständigen Bewegungswechseln. Im ersten Teil liefen die TänzerInnen noch vorwiegend aneinander vorbei, im zweiten begegnen sie sich häufig, verharren ganz kurz miteinander, um dann doch wieder davonzustieben.

In Teil zwei legt einer von ihnen eine Platte auf den Tanzboden und beginnt zu steppen. Und es ist gerade dieses Aus-der-Reihe-fallen, das dem Stück plötzlich eine neue Dimension gibt, etwas Individuelles, Persönliches im Reigen der sich doch stark ähnelnden Bewegungsstudien der anderen. Um dann in Teil 3 doch wieder aufzugehen in der sich wellenartig beschleunigenden und verlangsamenden Masse, die nie zur Ruhe kommt, sich mal umarmt, dann wieder auseinanderfällt, um gleich wieder zusammenzukommen - bis zum Schluss alle das Weite suchen und nur eine Frau zurückbleibt. Bis schließlich auch sie geht.

Rachid Ouramdane hat mit „Tenir le Temps“ eine Art Perpetuum mobile konstruiert, das durch seine puristische Schlichtheit in Bann schlägt. Es ist eine Studie, die immer wieder nach der Bedeutung des Einzelnen im großen Ganzen fragt. Das klarmacht, welche Verantwortung der Einzelne trägt, weil er Kettenreaktionen auslösen kann – und dominosteinartig die ganze Riege zusammenstürzen lässt. Und das ebenso verdeutlicht, wie wichtig die Gemeinschaft ist für das Leben des Einzelnen. Gerade deshalb ist dieses Werk so zeitgemäß und auch so politisch.

Nein, die Zeit lässt sich nicht festhalten. Aber wir können uns immer wieder bewusst machen, wie wichtig es ist, innezuhalten, zu reflektieren, und nicht einer sinnlosen Hektik hinterher zu hecheln. Das Sommerfestival auf Kampnagel ging damit zu Ende – es war ein schöner und vor allem sehr zukunftsweisender Abschluss.
 

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