Ganz schön unerhört

Rampenlichter 2016: Ein Rückblick

Das Münchner Tanz- und Theaterfestival zeigt auch in diesem Jahr Stücke von Kindern und Jugendlichen, die aufwühlen. Mit dabei waren Gruppen aus Düsseldorf, Berlin, Salzburg, Magdeburg und München.

München, 10/08/2016

„Die Leute von Swabedoo“ ist ein Märchen über ein kleines Völkchen, das in Frieden lebt. Ohne Geld, Neid, Hass oder Ähnliches. Die Leute aus Swabedoo tauschen, umarmen sich, verteilen gute Gedanken und Laune. Eine Utopie, die doch so einfach zu erreichen wäre, wenn es nicht immer die bösen und griesgrämigen Pessimisten gäbe, die die Ruhe und den Frieden absichtlich stören. Dieses Dilemma wird von den "Kleinen Bühnengestalten München" in einem 45-minütigen Theaterstück verarbeitet. Ziemlich imposant für eine Theatergruppe, die aus 6- bis 12-Jährigen besteht und darüber hinaus einen Jungen mit Handicap inkludiert. In Swabedoo ist alles symbiotisch, ergibt alles Sinn, ist alles wunderschön. Das Leben könnte so einfach sein, die Welt so positiv.

„Der gestiefelte Kater“ der Gebrüder Grimm ist ein Klassiker und Muss im Deutschunterrricht. Das Märchen handelt von einem armen Müllerssohn, der „nur“ einen Kater erbt und am Ende mit einem riesigen Königreich da steht. Aus nichts wird viel, aus arm wird reich. Und die Moral von der Geschichte ist: Geld ist nicht so wichtig, wie man meint. Es zählt eher, wie gewitzt und optimistisch man durch das Leben schreitet. Die SchülerInnen der Klasse 5a der Gesundbrunnen-Grundschule aus Berlin-Wedding haben ihre eigene, sehr hip-hop-lastige Version der Grimm’schen Geschichte auf die Bühne gebracht. Alle Akteure tragen einen Overall tragen, der individuell den Rollen angepasst ist, schwarz steht für den schwarzen Kater, gold natürlich für den König. Mit diesem bequemen Kleidungsstück können sie auch viel besser tanzen und durch das Königreich hüpfen, um am Ende „Einmal um die Welt“ von Cro zu singen: „Baby, bitte mach‘ dir nie mehr Sorgen um Geld, gib' mir nur deine Hand, ich kauf' dir morgen die Welt.“ Den Finanzen in Finanzkrisen nicht zu viel Wert beizumessen, ist eine gute Idee, denn sonst geht das Leben verloren. Und tanzen sollte jeder irgendwann, sonst wird man verrückt, das haben die Kids erkannt.

Das haben auch drei weitere Jugendgruppen gedacht und sehr unterschiedliche, in ihrer Ästhetik wunderschöne Stücke geschaffen: „Reset the World“, „Janus“ und „Panorama“: Der Jugendmigrationsdienst der Diakonie Düsseldorf hat im Tanztheaterstück „Reset the World“ mit den Jugendlichen ihre Sicht auf die Welt und deren Veränderungen umgesetzt. Sie digitalisiert und individualisiert sich, wird immer erfolgsorientierter. Die Jugendlichen bewegen sich zu Hip-Hop-Beats, sind hochmodern in ihrem Stil und doch anders, da sie unangepasst die heutige Welt hinterfragen. Sie wollen nicht nur auf der Bühne einen Ort schaffen, an dem jeder willkommen ist, egal welcher Herkunft, welche Hobbies, Interessen und Stärken man hat. Jeder ist schön, so wie er ist. Lass dich nicht unterkriegen, mach dein Ding, dann ist alles gut, lautet ihre Aussage.

Das Münchner Kinder- und Jugendtanzensemble Bühnenstürmer setzt sich in ihrem Tanzstück „Janus“ mit Gegensätzen auseinander und dass mit Widersprüchen nicht ablehnend, sondern integrierend umgegangen werden sollte. Janus, der Gott des Anfangs und des Endes, bedeutet mit seinen zwei Gesichtern genau dies: Nichts ist nie nur gut oder schlecht, schwarz oder weiß, sondern trägt immer alle Seiten, positive wie negative, in sich. Die Bühnenstürmerinnen stellen dies tänzerisch zu atmosphärischer Musik dar. Der Zuschauer beginnt unweigerlich seine eigene Sicht auf die Welt zu hinterfragen, seine eigene Schwarz-Weiß-Malerei zu kritisieren.

Aus Salzburg ist ein freies Tanzensemble angereist, das in ihrer Performance „Panorama“ ebenjenes von verschiedenen Frauen verschiedenster Altersstufen erstellt. In diesem Gruppenbild der Weiblichkeit wird näher hingeschaut, jede einzelne der zwischen sechs und 26 Jahre alten Frauen wird betrachtet. Ihre Bewegungen werden untersucht, sie erzählen ihre Geschichten und ihre Probleme, die sich von Generation zu Generation unterscheiden.

Doch das persönlichste und durchdringendste Stück des Festivals ist das Puppenspiel „Experten über: Liebe“. Sieben Jugendliche sitzen hier in einer Runde und sprechen über die Liebe. Ein äußerst schwieriges Unterfangen! Man möge sich daran zurückerinnern, wie verklemmt man selbst in diesem Alter bezüglich des anderen Geschlechts gewesen ist, während die bitterböse und schmerzhafte Pubertät einem die Hormone durchschüttelt. Doch die Kids des PuppenSpielClubs (PSC) Magdeburg bewahren einen kühlen Kopf und überraschen mit Offenheit und Ehrlichkeit. Seit 2015 beschäftigt sich der PSC mit dem Thema aller Themen: der Teenie-Liebe. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, geht auch gar nicht, da die Puppen für sie sprechen. Und diese sind keine Wunschidentitäten, sondern Sprachrohre. Sie können deswegen frei Schnauze reden über das Verliebtsein, das erste Rendevouz, Masturbation, Pornos und reichen Kondome in der Runde herum, die genauestens inspiziert werden. Für das sehr junge Rampenlichter-Publikum ist das, was die PuppenspielerInnen da vorne auf der Bühne veranstalten, teilweise unglaublich unangenehm. Ihnen scheinen die Fragen stellenweise zu weit zu gehen, sie sind perplex ob der Direktheit, mit der diesem Thema begegnet wird. Es offenbart sich – auch im anschließenden Gespräch mit dem PSC – das eigentliche Problem: Der fehlende oder fehlerhafte und vor allem schamerfüllte Umgang mit Sexualität im Schulunterricht. Die jungen Künstler wissen dies am besten und erklären, dass ihnen wenig erklärt werde, selbst auf Nachfragen bekämen sie unzureichende und unbefriedigende Antworten. Mit den Themen Sex, Liebe und allem, was sonst noch so dazu gehört, wird in der Schule sehr verhalten umgegangen. Eine Lösung muss her. Die Kids aus Magdeburg haben ihre eigene gefunden und das sollte man ihnen hoch anrechnen. Im Schutzraum Theater trauen sie sich nachzufragen, da sie sich der Dringlichkeit des Themas bewusst sind.

Das alles beweist, welche Relevanz das Rampenlichter-Festival seit nunmehr neun Jahren hat und auch 2016 aktuelle Themen wie Flucht, Migration, Inklusion, Erwachsenwerden, Liebe und Sex ins Blickfeld rückte. Und das schaffen die Kinder und Jugendlichen ehrlicher und unvoreingenommener als manch Erwachsene. Sie sind unbeschwert, angst- und vorurteilsfrei. Das diesjährige Rampenlichter-Festival war daher wieder unerhört: Unerhört aufwühlend. Unerhört bewegt. Unerhört echt. Unerhört unverschämt. Doch keinesfalls un-erhört.
 

Kommentare

Noch keine Beiträge