Szenenbilder aus „Bolschoi Babylon“

Szenenbilder aus „Bolschoi Babylon“

Unter extremem Erfolgsdruck

Der Regisseur und Kameramann Nick Read über seinen Film „Bolschoi Babylon“

Die Bilder gingen um die Welt: Der Leiter des Moskauer Bolschoi Balletts Sergej Filin mit bandagiertem Kopf und Gesicht. Auf dem Heimweg nach einer Premiere im Januar 2013 hatte ihm ein maskierter Mann Säure ins Gesicht geschleudert.

München, 26/07/2016
Die Bilder gingen um die Welt: Der Leiter des berühmten Moskauer Bolschoi Balletts Sergej Filin mit bandagiertem Kopf und Gesicht. Auf dem Heimweg nach einer Premiere im Januar 2013 hatte ihm ein maskierter Mann Säure ins Gesicht geschleudert. Es war Bolschoi-Solist Pawel Dimitritschenko, der den Ex-Häftling Juri Sarutski beauftragt hatte, seinem Ballettchef „eins in die Fresse zu geben“. Hinter diesem Anschlag entdeckten der gesellschaftspolitisch interessierte britische Regisseur und Kameramann Nick Read und sein Produzent Mark Franchetti dann eine an Vetternwirtschaft, Eifersucht und Korruption krankende Institution. Ihre Dokumentation titelt der Sache durchaus angemessen „Bolschoi Babylon“.

„Wir stellten damals in Moskau gerade unseren Dokumentarfilm 'The Condemned' (Die Verurteilten) fertig, eine Arbeit über die russische Strafkolonie Nr. 56 ausschließlich für Mörder“, erzählt Read. Sein Team bekam glücklicherweise gleich eine Dreh-Genehmigung im Bolschoi, musste allerdings die Arbeit unterbrechen, als der tatverdächtigte Dimitritschenko verhaftet wurde. “Dimitritschenko ist übrigens wieder frei (wegen guter Führung nach drei, statt nach sechs Jahren, die Red.)“, sagt Read und zeigt auf seinem Smartphone ein aktuelles Foto des Solisten, zusammen mit dem ehemaligen Bolschoi-Star Nikolay Tsiskaridze. Wichtig zu wissen: Tsiskaridze war der Lehrer und Coach von Dimitritschenkos Freundin Angelina Woronzowa. Ihr unerfüllter Wunsch, die Schwanenkönigin zu tanzen – Filin hielt sie noch nicht reif dafür – war Ursache und Auslöser des Säure-Attentats.

Filin soll zu Woronzowa gesagt haben: "Wenn Du Tsiskaridze als Lehrer aufgibst, kriegt Du die Rolle“. Filin selbst jedoch will gesagt haben 'Du solltest erst mal mit einer Frau als Coach arbeiten'. Solche kleinen, aber gefährlich verschiedenen Aussagen – beziehungsweise modifizierten Wiedergaben – lassen erahnen, wie leicht vorher schon schwelende Brandherde zu kriminellen Intrigen auflodern können: Filin und Tsiskaridze – dieser hatte auch Ambitionen auf den Ballettchef-Posten – waren seit langem Erzfeinde. Wollte Filin dem Rivalen eins auswischen? Oder geraten in einem Ensemble von über 200 Mitgliedern – alle unter extremem Erfolgsdruck – prinzipiell die Alpha-Tiere aneinander?

Read, der sich ohne Scheu als Nicht-Ballettkenner outet, erkennt jedoch deutlich das menschliche Problem: „Im Bolschoi werden jährlich von den zahlreichen Akademie-Absolventen durchschnittlich nur drei genommen. Zunächst lobt man sie als 'etwas ganz Spezielles'. Und dann sind, wie es im Bolschoi heißt: 'die ersten sechs Monate schon das Grab' – die jungen Tänzer verschwinden im Ensemble. Deshalb müssen sie, über ihre technische Leistung hinaus, irgendwie auf sich aufmerksam machen.“ Tänzerkarrieren sind prekär, wie hier in München die Verjüngung des Staatsballetts durch den neuen Leiter Igor Zelensky gerade wieder ins Bewusstsein rief. Gottlob sind Rache-Akte der Bolschoi-Art im Staatsballett nicht zu befürchten.

Zu Wort kommen bei Read: Maria Alexandrowa – sie tanzte beim Bolschoi-Gastspiel in München 2007, mit Sergej Filin als Basile, die Kitri in „Don Quichote“ –, Maria Allasch und Anastasia Meskowa, jede zwischen 37 und 39 schon eine Bolschoi-Veteranin. Warum ausgerechnet diese drei? Reads Argument: „Wir haben Stunden an Interview-Material mit vielen verschiedenen Leuten. Aber ich wollte Personen, die offen sind, die etwas zu erzählen haben. Primaballerina Svetlana Zakharova (sie gastierte ebenfalls schon beim Staatsballett, die Red.) verhielt sich äußerst kühl. Und Nikolay Tsiskaridze zog das Interview wieder zurück, weil er Leiter der St. Petersburger Waganowa Akademie wurde.“

Die Selbstzensur, die sich Künstler im Sowjetsystem zum Überleben selbst einimpften, schreibt sich also bis heute fort. Und der Krieg um Rollen, Gagen und Positionen, damals wohl durch die machthabenden Kulturminister unter der Decke gehalten, ist mafiös ausgebrochen. 2011 war Bolschoi-Solist Gennadi Janin als Ballettchef designiert. Nach den 3847 verschickten E-Mails (der Absender wurde nie ermittelt) mit Nacktfotos von Janin zusammen mit nackten Frauen und Männern, trat an seiner Stelle Sergej Filin an. Und auch er wurde schon vor der schweren Verätzung schikaniert mit automatischen Anrufen im Minutentakt, aufgeschlitzten Autoreifen und für Tänzer verletzenden Facebook-Einträgen unter seinem Namen. Verständlich vielleicht von daher Filins Reaktion, wie Read sie schildert: „Er hat hinter verschlossener Tür gearbeitet, umgab sich mit einer kleinen Gruppe von Leuten.“

Seine Rückkehr nach vielen Operationen, unter anderem in einer Augenklinik bei Aachen, ans Bolschoi Theater erwies sich nicht als eine glückliche. Der Grund: Filin hatte 2011 seine Ballettdirektion am Moskauer Stanislawsky-Theater (wo Münchens neuer Ballettchef Igor Zelensky sein zweites Standbein haben wird) für die am Bolschoi aufgegeben. Während Filins Behandlungszeit war Wladimir Urin, sein damaliger Chef am Stanislawsky, Bolschoi-Intendant geworden. Read erklärt dazu: „Die Trennung damals muss ungut verlaufen sein, Filin hat wohl auch Tänzer mitgenommen... Urin zögerte übrigens lange, dieses schwierige Amt anzunehmen. Und hat dann gleich angekündigt, Transparenz zu schaffen, sich nicht von Staatsbeamten reinreden zu lassen, sonst werde er gehen.“

2015 hat Urin die Verträge von Tsiskaridze und Filin nicht verlängert. Dessen Nachfolger ist Star-Tänzer Machar Wasijew, der zuvor sieben Jahre lang das Ballett der Mailänder Scala leitete.

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