Höchste Freude, tiefste Pein

Zum neuen Stuttgarter Ballettabend „Forsythe/Goecke/Scholz“

Der scheidende Stuttgarter Intendant Reid Anderson erlaubt sich nach zwanzigjähriger Amtszeit einen kleinen persönlichen Rückblick auf diese Erfolgsgeschichte: Drei der ganz großen Choreografen aus der Stuttgarter Ballett-Kaderschmiede zeigen ihr Können.

Stuttgart, 30/01/2016

„Bei mir müssen sich Tänzer nach der Musik richten, und zwar happig“, hat der viel zu früh verstorbene ehemalige Leipziger Ballettchef Uwe Scholz über seine Arbeit gesagt. Und sie tun es, die famosen Stuttgarter TänzerInnen, in einer strahlenden, lichtdurchfluteten Choreografie zu Beethovens „Siebter Symphonie“ - die das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Kevin Rhodes akustisch ebenfalls strahlen lässt. „Eine Apotheose des Tanzes“ hat Nietzsche diese Symphonie genannt, und tatsächlich: Wer einmal diese getanzten Bilder gesehen hat, wird sie beim Hören der Musik immer wieder vor Augen haben. Uwe Scholz geht so delikat und dabei so souverän mit dem Bewegungsmaterial des klassischen Ballettes um, als sei es seine höchst gepflegte Muttersprache.

Das Eröffnungsstück dieses Abends stammt aus demselben Jahr 1991: „The Second Detail“ von William Forsythe. Auch er benutzt das klassische Bewegungsvokabular, aber eher wie ein Mundartdichter scheinbar lässigen Dialekt gezielt einsetzt. Statt der Sprachendungen werden Bewegungen abgeschliffen, die exakten Körperlinien gebrochen - alles in unerhörtem Tempo. Kühles Grau ist die beherrschende Farbe, kühl ist der Tanz. Forsythe beschäftigt genau dreizehn Tänzerinnen, und die Primzahl ist Programm. Keine Symmetrie wie bei Scholz, keine eleganten Formationen von zwei bis zwölf TänzerInnen. Forsythe spielt genüsslich mit der Erwartungshaltung des Publikums und baut zahlreiche kleine Brüche ein. Zum Schluss mischt sich eine Barfuß-Tänzerin im weißen Gewand, das ein bisschen an ein geknotetes Tuch erinnert, mit ausdrucksvoller Innerlichkeit unter die zackigen Tanz-Klone – bis sie erschöpft zusammenbricht. Bei Forsythe richtet sich die Musik nach den Tänzern: Sein langjähriger Hauskomponist Thom Willems hat das Geräuschmaterial für den elektronischen Soundteppich vom Stampfen der Spitzenschuhe auf dem Tanzboden abgenommen...

Der scheidende Stuttgarter Intendant Reid Anderson erlaubt sich nach zwanzigjähriger Amtszeit einen kleinen persönlichen Rückblick auf diese Erfolgsgeschichte. Denn beide so unterschiedlichen Choreografen entstammen der Stuttgarter Ballett-Kaderschmiede, mit beiden hat er selbst gearbeitet, beide waren dort als Hauschoreografen tätig. „The Second Detail“ hat Anderson selbst noch als Leiter des kanadischen Nationalballetts in Auftrag gegeben; die unvergessene Marcia Haydée hat währenddessen in Stuttgart Uwe Scholz mit der „Siebten Symphonie“ auf den Weg gebracht.

Dass Scholz und Forsythe ihre Karriere als Hauschoreografen in Stuttgart starteten, verbindet sie auch mit Marco Goecke, der mit „Lucid Dream“ eine Uraufführung zu diesem Tanzabend beisteuerte. Seine Choreografie zu Mahlers letzter, unvollendet gebliebener 10. Symphonie ist eine einzige Klage, die um stumme, und auch mal laute Schreie kreist: „Pein!“ ruft ein Tänzer ins Parkett, bevor der Vorhang fällt. Zehn Tänzer in schwarzen Hosen mit nackten Oberkörpern wirken wie ein Schwarm von Trauervögeln, denn Goecke lässt die Arme und Schultern tanzen wie Vogelschwingen, der Rest der Körper darf nur mitmachen... Die bloßen Rücken, die höchste innere Anspannung sichtbar in weiterlaufenden Bewegungen der Muskelketten – das alles sind längst Goeckes Markenzeichen. Unter die zehn Männer darf sich einmal Agnes Su mischen, wohl eine Hommage an Alma Mahler-Werfel, deren Affäre mit Walter Gropius die Arbeit an der 10. Symphonie überschattete. „Lucid Dream“ ist ein Wach-Alptraum, aus dem man eben nicht befreit wieder aufwachen kann. – Großer Beifall, so recht made in Stuttgart.
 

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