„Le Mandarin Merveilleux“

„Le Mandarin Merveilleux“

Schüsse, Liebe, Tod, Verwirrung der Gefühle

Das Béjart Ballet aus Lausanne zu Gast in Stuttgart

Im Foyer des Stuttgarter Opernhauses wird man gewarnt: Es gäbe Szenen, in denen geschossen wird, liest man auf Aushängen.

Stuttgart, 01/12/2015

Mit einem Schuss beginnt der Abend. Es werden zwei weitere folgen. Der Tänzer Julien Faveau setzt den Revolver an, er schießt sich in die Schläfe, er fällt um. Die Kompanie tanzt ausgelassen zu Barockmusik aus dem 18. Jahrhundert und südlich grundierte gute Laune breitet sich aus. Ist das die Auferstehung im Tanz, ist der junge, unglückliche Mann jetzt etwa im Himmel und tragen die ihn hier umtanzenden Engel himmlische Kleider von Gianni Versace?

Versace hatte für Maurice Béjarts „Suite Barocco“ aus dem Jahre 1997 die Kostüme kreiert und Dominique Roman setzt die wunderbaren Tänzerinnen und Tänzer, die sie jetzt in einer aktuellen Fassung tragen, ins rechte Licht. Da gibt es farbenfrohen Spaß und gewagte Sprünge, exzellente Hebungen und immer wieder wechselnde Konstellationen des Ensembles in Korrespondenz zum Pas de six oder den beiden Pas de trois. Am Ende weiß man nicht so ganz ob die Musik oder ob der Tanz des Solisten für jene Überwältigungsmomente sorgt, denn Händels Arie „Lascia ch´io pianga“ aus der Oper „Rinaldo“ ist eben ein echtes Gänsehautstück.

Ob der dritte Schuss wieder ins Leben oder endgültig in den Tod führt, bleibt offen. Ganz und gar nicht offen bleibt nach dieser Eröffnung des Gastspiels des Béjart Balletts in Stuttgart die Frage nach der ungebrochenen Lebenskraft dieser Kompanie. Nach Béjarts Tod wird sie von Gil Roman geleitet. Und dass es sich hierbei um keine konservatorische Nachlassverwaltung handelt, konnte man im zweiten Teil des Abends sehen.

Gil Roman zeigte in Stuttgart seine vor fünf Jahren entstandene Choreografie „Syncope“ mit dem Sound der beiden von ihm bevorzugten Klangkünstler von Citypercussion. Dazu, und das ist eine Rarität, das Lied „Berceuse“ von Frédéric Chopin. Das Stück führt in eine surreale Szenerie und in dieser Welt aus Fantasie und Halluzinationen gibt es mit Elisabet Ros und Arenas Ruiz ein skurriles Paar. Die Tänzerin mit leuchtendem Lampenschirmhut fährt den Tänzer auf einem Sessel, in dessen Polsterung er sich schon mal in totaler Unsichtbarkeit auflösen kann, durch die Szene. Dass sich der Titel dieser Kreation sowohl auf die musikalische als auch die medizinische Bedeutung bezieht, vermitteln die Tänzerinnen und Tänzer spätestens dann, wenn sie in weißen Kitteln erscheinen. Ist das eine Flucht kraft tänzerischer Fantasien aus der Gefangenschaft einer geschlossenen Anstalt in die offenen Welten der Fantasien? Mit Szenen wie dem „Tanz der Tropfen“, dem „Tanz der Kittel“, in den Soli, einem Trio und drei gänzlich verschiedenen Pas de deux werden nämlich bildkräftig weite Welten der Fantasien geöffnet.

Mit „Liebe und Tod“ zu Liedern von Gustav Mahler aus dem Zyklus „Des Knaben Wunderhorn“ erlebt man bei diesem Gastspiel sowohl den choreografischen als auch den musikalischen Höhepunkt dieses Programms. Maurice Béjart hat sich mehrfach mit Mahlers Musik auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu manchen anderen Choreografen bleiben seine bewegenden Bildkompositionen auch nicht hinter denen des Komponisten zurück.
Bei Béjart kommen zwei einsame Menschen zueinander. Oscar Chacon als „Tamboursg’sell“ tanzt beeindruckend intensiv zu einer Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau. Das folgende Duo mit der hochsensiblen Kateryna Shalkina ist nicht nur tänzerisch ein Dialog. Auch musikalisch erklingen zwei Aufnahmen, einmal mit Fischer Dieskau, und einmal mit Elisabeth Schwarzkopf. Das Lied „Wo die schönen Trompeten blasen“ ist ja ohnehin dialogisch komponiert. Am Ende, wenn der Tambour dahin zieht, wo „die schönen Trompeten blasen“, zu seinem Haus, wieder, in Klang und Bild, die Assoziationen abgrundtiefer Einsamkeit. Und, wie schon zu Beginn, die Tänzerin als Engelsgestalt, nur in der Schlichtheit ihres Auftretens ganz menschlich, ganz zärtlich, eben ohne Fächerflügel von Versace.

Béla Bartóks Ballett „Der wunderbare Mandarin“, 1926 in Köln uraufgeführt und sogleich vom damaligen Oberbürgermeister Konrad Adenauer aus moralischen Gründen verboten, verlegte Maurice Béjart 1992 in seiner Choreografie ins Ganovenmilieu der Stummfilmzeit. Julian Favreau ist der Oberganove, für den Lawrence Rigg in einer exzellenten Travestie als Prostituierte die Opfer anlockt. Und weil Lust keine Grenzen der Geschlechtlichkeit kennt, muss sich Lisa Cano als junger, unerfahrener Freier operettenmäßig die Verunsicherung abzappeln. Ein Clou ist Masayoshi Onuki als Mandarin in der Gestalt eines revolutionären Rotchinesen, für den die tödliche Begegnung mit der verbotenen Frau, die noch dazu ein Mann ist, zu einer Erfahrung wird, die der einer sexuellen Revolution gleichkommt. Mit einer gewitzten Hommage an Vaslav Nijinsky haucht der junge Rotchinese sein Leben faunisch aus. Er onaniert auf die Perücke jener Frau, die eigentlich ein Mann ist.

So geht dieses vom Publikum stürmisch gefeierte Gastspiel mit einem Satyrspiel der besonderen Art zu Ende.

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