„Six Breath“ von Ricardo Fernando

„Six Breath“ von Ricardo Fernando

Gar nicht provinziell

Choreografien von Viera - Toulon - Fernando

Hagens Ballettchef Ricardo Fernando hat wahrlich nicht zu viel versprochen, wenn er dem Publikum im Grußwort des Programmhefts zum ersten Tanzabend dieser Spielzeit „etwas Besonderes“ in Aussicht stellt.

Hagen, 11/11/2015

Kaum zu glauben – und doch schönste Realität! – dass in diesen Zeiten klammer Stadtkassen am Theater einer besonders arg gebeutelten Industriestadt wie Hagen ein Programm mit drei Uraufführungen von international anerkannter Choreografen mit so hohem technischen Anspruch auf die Bühne kommt, das auch einem größeren Theater Ehre machen würde. Denn sogar die Musik – so oft und meist aus Kostengründen Stiefkind im Tanz – wird live gespielt. Dabei handelt es sich noch dazu um Orchesterwerke von drei hierzulande teils noch wenig bekannten zeitgenössischen Komponisten – was für ein Wagnis, was für ein Gewinn! Ein großes „Bravo!“ dem Philharmonischen Orchester Hagen und seinem Ersten Kapellmeister Steffen Müller-Gabriel.

Der Ukrainer Valentin Silvestrov hat mit seiner 4. Sinfonie 1976 eine knapp halbstündige, einsätzige, meist getragen langsame Komposition für Bläser und Streicher geschrieben, die sich in ihren dissonanten Klängen mit dem verzweiflungsvollen Tanz-Thema über menschliche Abhängigkeiten - sei's durch Drogen, Sex oder Liebe - kongenial verbindet. Das Seelendrama hat der portugiesische Dichter Fernando Pessoa in seinem „Buch der Unruhe...“ mit ungemein poetischen, intensiven Sätzen beschrieben. „Um verstehen zu können, habe ich mich selbst zerstört. Verstehen heißt, das Leben vergessen“, ist einer der Kernsätze, die in englischer Sprache zu Beginn und am Ende der Choreografie „Breaking Skin“ von Hugo Viera der Tänzer Eoin Mac Doncha mit gleichmäßig leiser Stimme vorträgt.

Aus dem Dunkel des schwarzen Bühnenraums tritt er mit weiten Schritten, von sich gestreckten, rudernden Armen und gespreizten Fingern tastend in den Raum. Spastisch verkrampfte Gesten und Kopfbewegungen wie in Gemälden von Egon Schiele kennzeichnen sein Bewegungsvokabular – animalisches Vorwärtsstreben, Rucken und Zucken, stelzende Füße auf Spitze oder Halbspitze beobachtet man dann auch bei den anderen Tänzern. Immer wieder öffnen sich Münder zum lautlosen Schrei. Zwei konfrontieren sich, die Stirn gegen einander gedrückt wie kämpfende Hirsche, Verschränkungen der Leiber wirken qualvoll, martialisch, kurze Duett-Posen im Profil sind einzige Momente angedeuteter Harmonie. Nichts scheint natürlich, alles gequält – und doch von einer bizarr schönen Ästhetik, meist in Slow Motion. Angestrengt und gleichzeitig doch von ätherischer Leichtigkeit reihen sich beeindruckende Menschenbilder an einander. Allein bleibt der Gequälte – allein auch der Starke (Gustavo Barros), der sich seiner Geliebten (Jiwon Kim Doede) entledigt, indem er die auf dem Boden Liegende totquetscht wie ein lästiges Insekt.

Vier lange schwarze Lichtleisten durchschneiden den Raum. Einzelne Lampen oder eine ganze Reihe leuchten auf, blenden oder verteilen diffuses Licht, wenn gegen Ende einer den leidend Ruhelosen mit Puder bestreut, um ihn von einer Plage wie mit Läusepulver zu befreien oder mit ‚Stoff’ nur noch weiter in seine Abhängigkeit zu zwingen?

So unglaublich intensiv in Konzeption und Ausführung war diese Aufführung, dass man sich schon fast ‚satt’ fühlte. Aber auch die beiden folgenden Stücke bieten viel. Darrel Toulon, früher Tänzer an Jochen Ulrichs Kölner „Tanzforum“, dann 14 Jahre erfolgreicher Grazer Ballettdirektor, stellt seine Choreografie unter den Gegensatz von schwer und leicht („Heavy Light“). Hände voll kleiner Perlen schleudern die Tänzer in den Raum. Das sieht aus wie kleine Kaskaden von Schweißperlen, wie man sie so oft bei Tanzvorstellungen wahrnimmt. Später regnet es hinten weißen Reis (?) aus dem Schnürboden und vorn an der Rampe orange Linsen (?). Die musikalische Untermalung lieh den Titel, Steven Mackeys Kammermusikstück „Heavy Light“ von 2001 für Flöte, Cello, elektrische Gitarre, Schlagwerk (darunter Kuhglocke und Trillerpfeife) mit zarten Klavierauftakten und -einsprengseln. Auch hier ist die Übereinstimmung von Klang und Bewegungsbild unübersehbar. Allerdings stört an der Choreografie doch ein wenig Toulons in den 1980er Jahren stecken gebliebener Duktus - etwa die, zwar noch immer berauschend schönen, aber reichlich oft wiederholten „Ailey-Schwingen“ und die Modern Dance-Formationen in den Gruppenszenen. Von angekündigten Themen wie „Orpheus und Eurydike“ oder „Dido und Aeneas“ ist wenig zu sehen.

In das besonders lebhafte, mit agierende Bühnenbild von Peer Palmowski, der auch die anderen Szenen illustrierte, stellt Ricardo Fernando in „Six Breaths“ schließlich seine unglaublich gereifte, vielseitige Kompanie. Schon vor Beginn sind auf dem Vorhang sich ständig verändernde Negativporträts zu sehen, die Teile des menschlichen Kopfes zeigen. Später erscheinen die ganzen Negative auf hohen Paneelen, alternierend mit schmalen Jalousien, die immer wieder aufgezogen und geschlossen werden, sodass gelegentlich Tänzer wie durch einen Schleier sichtbar werden, während andere vor den Elementen tanzen. Auch hier – wie in den beiden vorangegangenen Choreografien – umspielen dezente, unifarbene Kostüme von Rosa Ana Chanzá locker die Körper oder liegen wie Turnzeug an. Die Bewegungsmuster der Gruppenszenen, kurzen Solos, Duette und Trios folgen weitgehend und angenehm unterhaltsam der Musik des italienischen ‚Entertainers’ Ezio Bosso als Dialog zwischen Tanz und Musik. Dazu lässt sich gut atmen – auf der Bühne wie im Parkett. Tosender Applaus!

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